Eine kanadische Rarität neu entdeckt: Jacques Hétus 5. Sinfonie unter Alexander Shelley
Die CD-Neuaufnahme von Jacques Hétus 5. Sinfonie, eingespielt vom National Arts Centre Orchestra und dem Orchestre symphonique de Québec unter der Leitung von Alexander Shelley, ist eine seltene Perle. Gemeinsam mit dem Toronto Mendelssohn Choir gelingt es diesen herausragenden Interpreten, ein fast vergessenes Werk des kanadischen Komponisten Jacques Hétu wieder zum Leben zu erwecken. Die Aufnahme erschien beim Label Analekta und ist nicht nur für Hétu-Liebhaber von Bedeutung, sondern bietet auch eine faszinierende Entdeckung für all jene, die mit der kanadischen Musikwelt bisher wenig Berührung hatten.
Jacques Hétu, 1938 in Trois-Rivières geboren, war in Kanada einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein musikalischer Stil ist gekennzeichnet durch eine einzigartige Verbindung von klassisch-traditionellen Formen mit moderner Klangsprache. Nachdem er in Montreal bei Clermont Pépin studiert hatte, perfektionierte er seine Kompositionstechnik in Paris bei den berühmten französischen Komponisten Henri Dutilleux und Olivier Messiaen. Diese Erfahrung prägte sein Werk maßgeblich. Hétu gelang es, die komplexe Harmonik und die dichte Struktur französischer Musik mit der lyrischen, oft farbenfrohen Klangsprache der Romantik zu verbinden. Seine Musik bleibt trotz ihrer strukturellen Raffinesse zugänglich, was sie sowohl für das Publikum als auch für Musiker reizvoll macht. Dies zeigt sich deutlich in seiner 5. Sinfonie, die zu den herausragendsten Werken seines Spätwerks zählt.
Hétus 5. Sinfonie, 2010 vom Toronto Symphony Orchestra uraufgeführt, ist in Europa nahezu unbekannt geblieben. Sie beschreibt die Tragik und das Grauen des zweiten Weltkriegs, aber auch die Hoffnung auf Freiheit, verkörpert durch Paul Éluards Gedicht „Liberté“, das im vierten Satz eine zentrale Rolle einnimmt. Die Musik ist tief, emotional und ergreifend, doch nie sentimental. Sie lässt Raum für Reflexion und bewegt sich stets auf einem schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Hoffnung.
Im ersten Satz, dem „Prolog“, schafft Hétu eine klangliche Collage, die Paris vor dem zweiten Weltkrieg einfängt. Alles beginnt wie in der Ruhe vor dem Sturm, bevor sich das Hörbild in Bewegung setzt. Alexander Shelley und seine beiden Orchester zeichnen hier das Bild einer aufgeregten, pulsierenden Stadt, die dennoch bereits die Vorahnung dunkler Zeiten in sich trägt. Die transparenten Holzbläser und das präzise Zusammenspiel der Streicher erzeugen einen fast hypnotischen Effekt, der den Zuhörer sofort in die Szenerie hineinzieht.
Der zweite Satz, „Die Invasion“, ist ein musikalischer Ausdruck der Kriegswirren. Atemlos und nervös präsentieren die Orchester hier ein dichtes Geflecht aus rhythmischen und melodischen Strukturen. Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie Shelley die Polyphonie der verschiedenen Instrumentengruppen gestaltet. Das ständige Ringen der musikalischen Stimmen lässt die Dramatik des Krieges unmittelbar spürbar werden. Die dynamischen Steigerungen und plötzlichen Pausen wirken wie Schläge, die den Hörer förmlich durch die Musik hindurchstoßen.
Im dritten Satz, „Die Besatzung“, wechselt die Atmosphäre, düster, bedrohlich und voller Geheimnisse. Ein melancholischer Trauermarsch wird durch das zarte, aber dennoch eindringliche Spiel der Streicher getragen. Shelley gelingt es hier gekonnt, die tiefgründige Emotion dieses Satzes zu vermitteln. Die Hörner und Trompeten, die sich wie ein verzweifelter Schrei über das Orchester erheben, unterstreichen die bedrückende Stimmung. Besonders hervorzuheben ist die Balance, die Shelley zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen herstellt, sodass jede Nuance der Partitur zur Geltung kommt.
Der abschließende vierte Satz, Freiheit, ist der emotionalste Teil der Sinfonie. Das Gedicht „Liberté“ von Paul Éluard wird hier nicht nur vertont, sondern mit großer Hingabe inszeniert. Der Toronto Mendelssohn Choir zeigt sich in dieser Aufnahme von seiner besten Seite. Mit klanglicher Präzision und emotionaler Tiefe bringt der Chor die Worte Éluards zum Leuchten. Die sanften A-cappella-Passagen gehen nahtlos in kraftvolle, orchestrale Ausbrüche über, die das Streben nach Freiheit in all seinen Facetten widerspiegeln. Die immer wiederkehrende Zeile „J’écris ton nom“ („Ich schreibe deinen Namen“) wird durch die behutsame Führung des Chores zu einem regelrechten Mantra, das den Hörer ergreift.
Alexander Shelley zeigt sein tiefes Verständnis für Hétus Musik und seine Fähigkeit, sowohl die dramatischen als auch die lyrischen Elemente in perfektem Gleichgewicht zu halten. Das Zusammenspiel der beiden kanadischen Orchester – dem National Arts Centre Orchestra und dem Orchestre symphonique de Québec – gelingt gut. Die Klangfarben, die sie in dieser Aufnahme zaubern, sind reich und voller Nuancen, was vor allem in den orchestralen Zwischenspielen des vierten Satzes deutlich wird.
Der Toronto Mendelssohn Choir glänzt durch eine klare Diktion und eine feine Abstimmung mit den Orchestern. In den anspruchsvollen Chorpassagen des vierten Satzes zeigt er eine beeindruckende Klangfülle und Ausdruckskraft, die das emotionale Finale der Sinfonie zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.
Jacques Hétus 5. Sinfonie ist ein beeindruckendes Werk, das in dieser Aufnahme eine verdiente Würdigung erlebt. Alexander Shelley, die beiden Orchester und der Toronto Mendelssohn Choir erwecken Hétus Klangwelt mit einer Intensität und Tiefe, die dieses Werk auch über die Grenzen Kanadas hinaus bekannt machen sollten. Diese Aufnahme ist eine wertvolle Ergänzung für alle, die sich für die sinfonische Musik des 20. Jahrhunderts interessieren und die seltenen Raritäten schätzen. Eine spannende Hörerfahrung!
Dirk Schauß, im November 2024
Jacques Hétu
Sinfonie Nr. 5
Toronto Mendelssohn Choir
National Arts Centre Orchestra
Orchestre symphonique de Québec
Alexander Shelley, musikalische Leitung
Analekta, AN28890