CD KAIJA SAARIAHO: ADRIANA MATER mit Esa-Pekka Salonen; Deutsche Grammophon
Live Mitschnitt aus der San Francisco Davis Symphony Hall vom Juni 2023
„Ich versuche, die unendlich komplexen beziehungstechnischen Verwicklungen von innen heraus zu beleuchten, in die wir alle in unseren Familien und in unserem persönlichen Leben verstrickt sind, und die manchmal in Gewaltausbrüche münden können.“ Saariaho
Krieg, Vergewaltigung, Mutterschaft, ein als erlösendes Momentum abgesagter Rachemord des Sohnes an seinem brutalen Vater: Saariahos am 3. April 2006 an der Opéra National de Paris in der Regie von Peter Sellars (Koproduktion mit der Finnischen Nationaloper) uraufgeführte Oper „Adriana Mater“ ist trotz der Riesenorchesterbesetzung (mit gewaltigem, von vier Musikern bedientes Schlagzeug) ein kammertheatralisches, die Gedanken und emotionalen Achterbahnfahrten der handelnden Personen abbildendes Vier-Personen-Stück.
Die Premiere stand unter keinem guten Stern, als die Komponistin gezwungen war, die reichhaltig orchestrierte Partitur ständig an die Balance Orchester-Sänger-Raum anzupassen, als die für das Bühnenbild verwendeten Materialien bei einem Teil des Teams Kopfschmerzen und allergische Reaktionen auslöste sowie nicht zuletzt weil der Uraufführungstermin wegen eines Streiks kurzfristig verschoben werden musste.
Esa-Pekka-Salonen, der schon die Pariser Premiere dirigiert hatte, nahm das großartige Stück 17 Jahre später in San Francisco nicht zuletzt für die vorliegende Aufnahme wieder in Angriff. Die in Paris lebende Komponistin starb während der Orchesterproben zu der Aufführung, die nun erstmals auf CD veröffentlicht wurde.
Von den sechs Opern der finnischen Tonsetzerin ist Adriana Mater die expressivste, dramatischste und am wenigsten bekannte. Basierend auf einem Libretto des französisch-libanesischen Kriegsreporters und Bürgerkriegsüberlebenden Amin Maalouf handelt der Thriller-Zweiakter in sieben Bildern von „den Auswirkungen von Gewalt, dem Ausheilen nach bewaffneten Konflikten und dem Ende diktatorischer Regimes.“ Aleksi Barrière.
In der von Traumsequenzen und orchestralen Zwischenspielen tiefenpsychologisch vielschichtig durchzogenen Aktion trifft der junge Tsago auf das Mädchen Adriana. Als Soldat erlaubt er sich, die Intimität, die Adriana – der eigenen Kriegspartei angehörend – ihm verwehrt hat, mit brachialer Gewalt zu nehmen. Der aus dieser Vergewaltigung hervorgegangene Sohn Yonas macht sich als 17-Jähriger nach dem Dämmern der Wahrheit auf, den Vater zu töten. Refka, Adrianas Schwester, die das dunkle Familiengeheimnis ebenfalls von Yonas ferngehalten hat, will ihn stoppen. Als Yonas endlich dem blinden Vater von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, erfasst ihn Mitleid. Er gibt seinen Plan auf und flieht. Das siebente, finale Bild sieht die vier Protagonisten in ihren jeweiligen Erkenntnisprozessen isoliert. Adriana ist dem (offenbar nach ihr geratenen) Sohn für das Durchbrechen der Gewaltspirale und dem erlösenden Ausgang, der Heilung von Unrecht statt neu begangenem in Form tödlicher Rache, dankbar.
Die elektrisierend ausdruckstrunkene Musik hält für jede Figur der Oper eine spezifisch gefärbte Klangsprache bereit, wobei die Art der Verschmelzung von überaus eng gewobenen Orchesterstimmen, der Elektronik und der menschlichen Stimme eine bedeutende Rolle spielt. Die Komponistin beschreibt das so: „Adrianas orchestrale Einbettung ist dunkel und dramatisch, harmonisch sehr reichhaltig. Die harmonische Textur ihrer Schwester Refka ist in der Vertikalen begrenzter, doch sehr breit gefächert. Während Adriana oft in den hohen Lagen ihrer Textur singt, ist Refkas Part im Zentrum ihrer orchestralen Umgebung zwischen hohen und tiefen Instrumentallinien angesiedelt. Tsargos Musik ist rhythmisch, das Timbre verschatteter als das der anderen Protagonisten, seine Gesangslinie ist oft von düsteren Streichern in tiefer Lage umgeben. Die klare, energische, mit Trompeten akzentuierte Musik des Sohnes Yonas hebt und erhellt die Stimmung des zweiten Aktes.“
Auslösende Katastrophe und politisches Ereignis, das sowohl die Erfahrungswelt als auch Saariahos Verhältnis zur Musik für immer verändern sollte, war der 11. September 2001. Musik war fortan für die Künstlerin nicht mehr ein intimes, in sich geschütztes Universum, sondern eine Möglichkeit, die Welt um sie herum abzubilden und zu einer potentiell optimistischen Eventualität kondensiert, lebenswerter zu machen.
Barrière: „Bei aller Düsternis steht im Mittelpunkt von Adriana Mater der Glaube an ein schwaches Licht inmitten der Finsternis, jenes Licht, das Martin Buber und Hannah Arendt in individuellen Akten des Widerstands und der Zusammenarbeit sahen, und an das radikale Potenzial der Veränderung, das die Geburt jedes neuen Menschen in sich birgt, die Möglichkeit, dass sich dieselben Fehler vielleicht nicht wiederholen werden.“
Dem urgewaltigen Sog der in vielen Grautönen einer Art von Brutalismus und lavazerrissener Oberfläche huldigenden Musik kann sich der Zuhörer nicht entziehen. Die archaische Wucht und intimen Einsichten verdichten sich zu einem intensiven, auf einer hohen Spannungsebene angesiedelten, oft filmisch plakativen Kosmos. Ob man dem idealisierten Ausgang der Oper folgen will, steht in Anbetracht der doch jeden Tag vom nüchternen Gegenteil kündenden Weltlage auf einem anderen Blatt.
Die Realisierung der in französischer Sprache gesungenen Oper unter der musikalischen Leitung von Esa-Pekka Salonen hält im Sinne eines drängenden und dringenden akustischen Erlebnisses jede Sekunde in Bann. Die zu Höchstleistungen animierten San Francisco Symphony Orchestra & Chorus als auch die Besetzung der vier Hauptrollen mit der dramatischen Mezzosopranistin Fleur Barron (Adriana), der lyrischen französischen Sopranistin Axelle Fanyo (Refka), dem amerikanischen Tenor Nicholas Phan (Yonas) und dem rabenschwarzen Bassbariton von Christopher Purves (Tsargo) lassen in der kompromisslosen Wahrhaftigkeit der Interpretation keine Wünsche offen.
Die im August 2024 bereits digital veröffentlichte Aufnahme wurde bei den 67. GRAMMY Awards® im Februar 2025 als beste Opernaufnahme ausgezeichnet. Ich kann nur sagen: Zu hundert Prozent verdient!
Dr. Ingobert Waltenberger