CD JULES MASSENET: ARIANE – Live Mitschnitt aus dem Münchner Prinzregententheater vom Jänner 2023, Bru Zane
CD-Weltpremiere: Herrlich plüschiger Opern-fin-de-siècle Edelkitsch!
Wie ein üppiges Fünfgangmenü (er)füllt diese extravagant instrumentierte Oper mit süffigen Préludes, am Gefühlsanschlag berstenden Arien, uferlosen Duetten, mächtigen Chören und Zuckererbsen-aufschäumenden Finali unsere nach Mehr gierende Gehörverdauung. Wer Massenets „Hérodiade“ mag, wird auch Gefallen an diesem, das französische 18. Jahrhundert klassizistisch fortschreibenden Opernkoloss finden. Freilich mit einer romantisch chromatischen Musiksprache und reichlich Zitaten aus dem Werk Richard Wagners im Handgepäck fest verstaut.
Uraufgeführt im Oktober 1906 an der Pariser Oper, führt uns das Libretto von Catulle Mendès, antikes Drama und symbolistisches Gedicht zugleich, seine ganz eigene Version vom Schicksal der vor allem durch Richard Strauss feinsinnigem Geniestreich „Ariadne auf Naxos“ unsterblich gewordenen Opernstoff vor. Im durchwegs begeisterten Premierenpublikum damals wurden übrigens die prominenten Kollegen Giordano, Puccini, Fauré und Widor gesichtet. Die Reaktionen der Fachwelt waren gespalten und reichten, ablehnend, vom Vorwurf der Regressivität bis, begeistert, über die nach Neuerung tastende Ästhetik eines Komponisten auf dem Zenit seines Schaffens.
Bei Mendès und Massenet geht es – anders als es das antike Vorbild will – um die Schwestern Phèdre und Ariane, die beide um den Athener König Thésée rittern. Die explosive Ausgangslage macht klar, dass es in den fünf Akten nicht ohne gröbere „Wickel“ abgehen wird. Thésée, der den Minotaurus besiegen kann und dank des berühmten Ariane-Fadens aus dem Labyrinth zurückfindet, will denn auch Ariane nach Athen mitnehmen und sie zu seiner Königin machen. Wäre da nicht die leidenschaftliche Phèdre, die sich auf dem Schiff vorerst „nur“ der Eifersucht und Tristesse hingibt. Infolge eines Sturms muss das Schiff in Naxos notankern. Wie so oft in Ausnahmesituationen, drehen die Emotionen rund. Unser Held Thésée sieht auf einmal sein Liebesleben komplett neu und will nun statt Ariane Phèdre haben. Ariane, die nicht weiß, wer die unliebsame Nebenbuhlerin ist, vertraut ihrer Schwester Kummer und Schmerz an. Die serviert allerlei Ausflüchte, wird aber von Ariane bei ihrem ersten Kuss mit Thésée beobachtet. Ob des Schreckens fällt Ariane in Ohnmacht. Phèdre verstümmelt, die Schwester tot geglaubt, die Statue des Adonis. Das ruft die Göttin Cypris (besser bekannt als Vénus) auf den Plan, die Phèdre unter den Trümmern begräbt. Jetzt geht es effektvoll in den Tartarus zur gar schrecklichen Herrscherin Perséphone, die Ariane mit einem Rosenstrauß in der Hand um den Finger wickelt. Phèdre kommt frei. Als die beiden Frauen wieder in Naxos auftauchen, hat Thésée seine Dankbarkeit gegenüber Ariane abermals schnell vergessen. Er verlässt mit Phèdre die Insel, Ariane lässt sie gehen, verzeiht ihrem Verrat, folgt aber schließlich doch dem Gesang der Sirenen und ertränkt sich im Meer.
Jules Massenet, der führende französische Komponist der 1890-er Jahre, hat zu dieser bildreichen, sturmumtosten bis unterweltsgruseligen anderen „Ariadne“ eine Musik in der Nachfolge von Rameau über Gluck bis Wagner erfunden, die vokalen Parts sind lyrisch bis (hoch)dramatisch angelegt. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie gleich zu Beginn des ersten Aktes die Sirenen wie die Rheintöchter im „Rheingold“ harmlos von ihren Haaren als goldene Wellen schwärmen hören. Eine gar sonderbare französische Aneignung, die sich mit leicht wiedererkennbaren Motiven wie dem „Einzug der Götter in Walhall“, mit Fafner oder den Walküren verbundenen Themen oder natürlich Herleitungen aus „Tristan und Isolde“ beliebig fortsetzen lässt. Massenet gründet seine thematische Konstruktion in „Ariane“ auf ca. 20 Erinnerungsmotive und die Instrumentierung verrät ebenfalls seine Begeisterung für Wagners innovatives Musiktheater. Auch der heroische Gesangsduktus ist durchaus bei Wagner abgekupfert. Nicht zufällig wurden die beiden ersten Interpretinnen der Ariane (Lucienne Bréval) und der Phèdre (Louise Grandjean) zu ihrer Zeit u.a. als Brünnhilde und Isolde gefeiert. Massenet bedient sich aber auch bei Hits der französischen Barockmusik, wie den Tanzszenen aus „Orphée et Eurydice“ oder Berlioz‘ „Les Troyens“.
Trotz aller Referenzen haben wir es mit einem ganz eigenen, ausgefuchsten „Massenet“ zu tun, der in seiner feinen Melodik, durch Instrumente wie Flöte, Célesta, Harfe, Harmonium und Triangel geschaffenen Stimmung zu genießen ist und dem aus der Ferne bisweilen „Esclarmonde“ und „Werther“ zuwinken.
Was die Rezeption der Oper anlangt, so sieht es abgesehen von der Reprise an der Pariser Oper mit Georges Thill 1937 düster aus. 2007 gab es zwar eine szenische Produktion an der Opéra de Saint-Étienne unter der musikalischen Leitung von Laurent Campellone, die aber keine Nachahmer auf den Plan rief. Erst die beiden Konzert im Jänner 2023 in München in einer rhythmisch zackigen wie wohlschmeckenden sckokoladenkuchencremigen Klangvision, das nun auf Tonträgern verewigt wurde, erlaubt die Auseinandersetzung auf einer breiteren Basis. Und das ist gut so, egal, wie man zu dieser Oper und deren Umsetzung stehen mag. Bislang war mir nur die Szene „Ô frêle corps, trop faible, hélas“ der Ariane aus dem ersten Akt mit Joyce DiDonato auf ihrer Arien-CD „Diva-Divo“ ein Begriff.
Das immense Atout der Aufführung bilden das Münchner Rundfunkorchester und der Chor des Bayerischen Rundfunks, die im Prinzregententheater alle Präzision und Klangpracht aufboten, um den schwülstigen und butterkeksknusprigen Fin-de siècle Toneruptionen ordentlich Reverenz zu erweisen, sie klanglich bravourös aufzudröseln.
Die Besetzung ist grosso modo bei den Herren allererste Klasse, bei den Damen sollte man, trotz interessanter Stimmen, eine gewisse Vibrato-Toleranz mitbringen. Die beste Leistung des Albums bietet Jean-François Borras als Thésée. Diese farblich äußerst interessante, hell timbrierte Tenorstimme mit kurzem Vibrato passt wunderbar zum in Liebesdingen wie auch sonst in der Oper wankelmütigen König von Athen. Borras hat für den gebrochenen Charakter ein elegisch flüsterndes lyrisches Legato genauso parat wie heldische Spitzentöne. Ihm in der Qualität gleich der saftig virile französische Bariton Jean-Sébastien Bou als Thésées Kumpel Pirithoüs. Der Mady Mesplé Schüler glänzt außer der kernig fokussierten Stimme mit einer beispielhaften Diktion und dramaturgisch ausgefeilten Rollengestaltung. Yoann Dubruque und Philippe Estèphe erlauben es, in den kleineren Männerrollen das von ihren glorreichen Kollegen vorgegebene Niveau zu halten.
Bei den Frauenrollen ist die Besetzung internationaler. Die Ägypterin Amina Edris in der Titelrolle bringt einen fantastischen lyrischen Sopran mit, der sich schon bis zur Adalgisa vorgewagt hat. Kann Edris in der Mittellage und den lyrischen Momenten der Partitur mit delikater Tongebung und stupender Einfühlsamkeit punkten, da ist ein wahrer Hörgenuss zu erleben, so wird es in den dramatischen Höhen eng und spitz. Trotz aller Meriten eine Unterbesetzung für die schwere Rolle.
Die amerikanische Mezzosopranistin Kate Aldrich als Phèdre hat ebenfalls in Tiefe und Mittellage Sonores zu bieten und von der Rollenpsychologie passt alles. Aber das übermäßige Vibrato im oberen Register und scharfe Höhen trüben den Eindruck, vor allem dann, wenn es stimmlich zur Sache geht (dritter Akt). Dasselbe Problem stellt sich bei Julie Robard-Gendres Pereséphone, die tremolierend schrillen Schrecken im Tartarus verbreitet und Judith van Wanroijs über dem Zenit tönender Cypris.
Ich hätte in allen drei weiblichen Hauptpartien ruhiger geführte, breiter angelegte, zumindest echte Spinto-Stimmen bevorzugt.
Fazit: Hocherfreuliche Erst-Begegnung mit einem „Massenet-Spätling“, der durch die in pariserische Duftigkeit gehüllte Wagner Nähe noch einmal an Interesse gewinnt. Orchester, Chor und männliche Protagonisten sind Weltspitze, während die Sängerinnen der weiblichen Hauptrollen trotz vieler eindringlicher und wunderschön geratener Momente vor allem in den hochdramatischen Zuspitzungen und Konflikten überfordert scheinen. Ein Anhören lohnt auf jeden Fall!
Dr. Ingobert Waltenberger