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CD JOSEPH KEILBERTH dirigiert das KÖLNER RUNDFUNK-SINFONIE-ORCHESTER 1955-1967 – Aldilà Records

11.06.2022 | cd

CD JOSEPH KEILBERTH dirigiert das KÖLNER RUNDFUNK-SINFONIE-ORCHESTER 1955-1967 – Raritäten von Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling, Karl Höller und Paul Hindemith; Aldilà Records

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„Ich halte es für wesentlich, dass für das Konzert etwas offenbleibt. Ich bin da ganz der Auffassung Furtwänglers: ‚Man kann nicht alles vorher festlegen, denn das Wesentliche kommt erst bei der Aufführung zustande, die Inspiration, die Anwesenheit des Publikums, die Spannung des Orchesters, die Akustik,.. Selbstverständlich muss man das Konzert gründlich vorbereiten, aber die Gründlichkeit kann nicht durch Exerzieren, sondern nur durch Anregen erreicht werden.‘“ J. Keilberth

Diejenigen, die viel mit ihm arbeiteten, meinten, er sei ein ganz großer Musiker, ja der Größte (Mödl) gewesen, persönlich jedoch im Vergleich zu anderen Pultgrößen viel zu bescheiden. Keilberth war einer, der sein Handwerk versteht, ein Orchestererzieher der angenehmen Sorte, ohne die Perfektion allzu sehr zu strapazieren. Eine „Art Erlebnisfreude formte seine Aufführungen“ (Fischer-Dieskau). Keilberth war Zeitzeugen zufolge lebensbejahend, voller Humor, ein Liebender in Sachen Musik und Kollegenschaft, ein Urmusikant und hochsensibler Mensch mit großem Wissen und intensiver Ausstrahlung, sein Taktstock „schien zu schweben, schwerelos mit leuchtender Spitze – ein Zauberstab, dem alle willig und staunend folgten“ (B. Fassbaender).

Birgit Nilsson und Inge Borkh bezeichneten Keilberth als einen wirklichen Sänger-Dirigenten. Nilsson: „Er pflegte eine modernere Auffassung von Wagner, die mit dem neuen Wagner-Stil in Bayreuth harmonierte, der beweglichere Tempi und ein ständiges Bemühen, die Sänger immer zu ihrem Recht kommen zu lassen, vorsah...mit Keilberth zu singen, war, als schwebe man auf Wolken. Er ließ das Orchester die Sänger tragen, anstatt sie zu ertränken.“

Sein Werdegang führte ihn vom Korrepetitor für die Badische Staatskapelle Karlsruhe zum Generalmusikdirektor der Stadt, vom Generalmusikdirektor des Deutschen Philharmonischen Orchesters in Prag zum Oberleiter der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Das waren die Anfänge. Von 1948 bis 1951 war Keilberth leitender Kapellmeister der Staatskapelle Berlin im Admiralspalast, von 1950 bis 1968 wirkte Joseph Keilberth als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker. Gleichzeitig, d.h. genauer von 1951 bis 1959, hatte Keilberth die Funktionen eines Hamburgisches Generalmusikdirektors und Leiters des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg inne. Von Hamburg ging es nach München, wo er als Bayerischer Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper in München bis zu seinem Tod wirkte. Keilberth starb 1968 während einer Festspielaufführung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ im Nationaltheater München, präzise um 19h45 im zweiten Aufzug, nach Tristans Worten: „So stürben wir, um ungetrennt ewig einig ohne End‘, ohn‘ Erwachen …“. Er wurde 60 Jahre alt.

Gelernt hat Keilberth Klavier, Cello und Komposition, als Dirigent war er mehr oder weniger Autodidakt. Wiewohl sein Hauptaugenmerk als typischer Vertreter der deutschen Kapellmeistertradition den Werken von Mozart, Beethoven, Wagner, Bruckner, Brahms, R. Strauss, Pfitzner und Reger galt, dirigierte Keilberth ein nicht unbeträchtliches Repertoire von Komponisten der klassischen Moderne. Ein Langeweiler oder in Lauheit stecken gebliebener Biedermann war Keilberth manchem Vorurteil entgegen nie. Ganz im Gegenteil: Hören Sie sich etwa die Live-Aufnahme von Verdis „Macbeth“ aus dem Admiralspalast 1950 mit Josef Metternich und Martha Mödl an. Rasante Temposchürzungen etwa vor der ersten Cabaletta der Lady, bissige Rhythmen, grelle Orchesterfarben, Sinn für Dramaturgie und Mut zu extremen Zuspitzungen, all das eint sich zu einem zündendem musikalischen Krimi. Besser als Netflix & Co. Ein einmaliges Tondokument. Als mindestens genauso mitreißend empfinde ich die Ringmitschnitte aus Bayreuth 1953 und 1955. Interpretatorisch weit näher der schlanken-quecksilbrigen, trotzdem muskulös-fluiden Lesart eines Clemens Krauss als derjenigen des charismatischen, zu weihevollem Pathos neigenden Knapperstbusch, sind Keilberth und die gloriosen Besetzungen der Zeit für viele Wagner-Freunde – mich eingeschlossen – bis heute noch das Maß aller Dinge.

Jetzt gilt es allerdings der Instrumentalmusik, und hier wiederum einigen Juwelen der klassischen Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So begegnen wir auf dem vorliegenden Doppelalbum einer grandiosen Wiedergabe von Heinrich Kaminskis „Concerto Grosso“, einem Konzertmitschnitt vom 17.9.1956 aus Anlass des 10. Todestages wie des 70. Geburtstages des Komponisten. Es handelt sich um ein kontrapunktisch wahnsinnig anspruchsvolles Werk, von dem keine Studioaufnahme existiert. Die Keilberth-Aufnahme gab es schon einmal als Schwarzpressung bei Andromeda, aber tontechnisch weit unter der jetzt sorgfältig editierten Ausgabe. Das „Concerto Grosso“ wollte Wilhelm Furtwängler 1922 aus der Taufe heben, aber die Fertigstellung verzögerte sich bis April 2023. Die Uraufführung fand unter der musikalischen Leitung des Komponisten in Kassel statt. Fritz Busch, Erich Kleiber und Hermann Scherchen setzten sich in der Folge mit Konzerten für das polyphone Wunderwerk ein. Kaminski selbst konstatierte, dass mit dem Taktstock allein dem Opus nicht beizukommen sei. „Entweder bricht der polyphone Wille das starre Gleichmaß des Takts oder die Tyrannis des Taktstockes zerfetzt die lebendige Einheit des polyphonen Organismus.“ Franz von Hoesslin über die technischen Anforderungen der Gruppenpolyphonie: „Einem in sich schon polyphon behandelten Orchester wird ein zweites gegenübergestellt und in jedem Orchester die einzelnen Gruppen […] in sich und gegeneinander polyphon behandelt. Diese Polyphonie ist aber nicht nur eine solche der melodischen, sondern der rhythmischen Linie und es entsteht oft ein Kampf zwischen den einzelnen Gruppen um die Vorherrschaft der ihnen gerade eigenen Rhythmen und Taktarten.“ Also genau die richtige Aufgabe für Joseph Keilberth, sich dieser ‚Musikwerdung‘ strukturell mit stupender Klarheit, aber auch einer effektvollen dramaturgischen Geschmeidigkeit zu widmen. Auf jeden Fall ist das Hören dieser Musik eine Offenbarung, was in der Folge der von Bach in kunstvollste Höhen getriebenen kontrapunktischen Verflechtungen noch an Weiterentwicklung und hybrider Steigerung möglich war.

Von Kaminksis Schüler Reinhard Schwarz-Schilling hat Keilberth die „Partita für Orchester“ aus dem Jahr 1935 in Köln am 30.10.1961 dirigiert. Auf tonaler Basis, kontrapunktisch durchwirkt, kammermusikalisch besetzt (einfache Holzbläser, 2 Hörner, 2 Trompeten, Streicher, Harfe, Schlagzeug), erstreben in der authentischen Interpretation des Komponisten „Bewegungsimpulse – ohne stilisierende oder historische Absicht – die Bündigkeit tänzerischer Formen.“ Keilberths für damalige Verhältnisse ungemein ‚modernes‘ Streben nach Durchsichtigkeit der Fakturen und Transparenz in den einzelnen Stimmen sorgt für eine faszinierende Begegnung mit dem selten gespielten, von der Anlage her hochvirtuosen Werk. Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich noch dazu um eine Keilberth-Tonträgerpremiere. Als Alternative für Kenner: Jose Serebrier hat die „Partita“ mit der Staatskapelle Weimar 2011 für Naxos ebenfalls auf gutem Niveau eingespielt.

Auf CD 2 begegnen wir zunächst der „Passacaglia und Fuge nach Frescobaldi“ Op. 25 und der 1948 geschriebenen „Fuge für Streichorchester“ von Karl Höller (Studioaufnahme vom 7.10.1955 bzw. Konzertmitschnitt vom 22.5.1964), beides Tonträgerpremieren. Höller ist heute eher für seine Orgel- und Kammermusik denn für sein Schaffen an Instrumentalmusik bekannt. Seine Diskographie (im Verlag Ambitus gab es eine Edition) ist äußerst schmal. Aus einer Bamberger Kirchmusikerfamilie stammend, hatte er nach dem Krieg als prägendste Position den Posten eines Präsidenten der Münchner Musikhochschule (1954-1972) inne. Höller schrieb Musik in der Nachfolge Max Regers. Christoph Schlüren beschreibt in seinem herausragenden Beitrag für das Booklet (schon deshalb zahlt sich eine Anschaffung aus) seine Musik wortgewaltig als „eine Art süddeutsches Barock mit impressionistischen Zutaten in Zeiten der fortwährenden Umbrüche von der übersteigerten Spätromantik über Expressionismus, Neoklassizismus und Neue Sachlichkeit, Dodekaphonie, Serialismus und Zufallskomposition.“ Höller, den Keilberth ungemein schätzte und oftmals aufführte, hat mit den beiden Werken große Musik geschaffen, variationen- und einfallsreich, trotz aller kontrapunktischer Gelehrsamkeit sinnlich und stets voller überraschender Wendungen. Keilberth, dessen unantastbare Wertschätzung für die Musik Höllers in jedem Takt zu spüren ist, gelingen Wiedergaben voller Binnenspannung, flott, klangschön. Da ist ein passionierter Rästellöser und Sinnstifter  am Werk, ein sportlicher Anwalt all der komplexen Fugen, und jemand, der aus der formal strengen Disposition noch Funken an Humor zu schlagen versteht. Eine echte Entdeckung.

Aus Paul Hindemiths „Marienleben“ hat Keilberth im Studio am 8.12.1967 Lieder nach Texten von Rainer Maria Rilke mit der hervorragenden Sopranistin Agnes Giebel aufgenommen. Keilberth, der Hindemith persönlich kannte, mit dem ihm eine musikalisch-musikantische Freundschaft verband, sah den Komponisten als Fortsetzer der Linie Brahms-Reger. Auf dem Album sind diejenigen sechs Lieder zu hören, die Hindemith 1939 und 1959 orchestrierte und Keilberth später als separaten Zyklus mehrfach dirigierte. Bessere Interpretationen dieser so eigentümlich zwischen formaler Rigidität und rauschhaft spätromantischen Klangwelten changierenden Orchesterliedern sind nicht vorstellbar. Agnes Giebel singt stets wortdeutlich, voller hingebungsvoller Emphase, den lyrischen Grundtonus mit hochdramatischen Ausbrüchen würzend. Eine referentielle Aufnahme. Schade, dass Hindemith nicht alle 15 Lieder des Zyklus als Fassung für Stimme und Orchester bearbeitete.

Am Schluss des so interessanten Albums steht das „Konzert für Orgel und Orchester“ von Paul Hindemith. Anton Heiller war der prominente Wiener Organist der am 23.10.1964 entstandenen Studioaufnahme. Heiller war es auch, der die Uraufführung 1963 in New York unter der künstlerischen Leitung des Komponisten spielte. Schwere Kost, zugegeben. Dennoch ist es spannend, sich in das manchmal unentwirrbare Geflecht von Orchester und Orgelpfeifen zu wagen, den Bläserfanfaren, dem Raunen der Streicher und mystischen Flüstern, dem hohen Flötengezwitscher der Orgel, dem extravaganten Schäumen des Holzes zu lauschen, ganz generell sich vom Strom der sich kühn ändernden Klangfarben mitreißen zu lassen. Klasse und adrenalilmächtig wie Bungee-Jumping.

Falls Sie außer dem Operndirigenten Keilberth auch den Pultmeister symphonischen Repertoires kennenlernen wollen, lassen Sie Beethoven liegen und hören sich dieses Doppelalbum an. Und fragen sich mit mir, warum heute Höller, Kaminski und Hindemith so selten auf den Spielplänen der Symphonieorchester auftauchen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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