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CD: JOSEPH HAYDN SYMPHONIEN Nr. 94, 95, 98, 99, 101, 103; PAAVO JÄRVI dirigiert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen; RCA

21.12.2024 | cd, REISE und KULTUR

CD JOSEPH HAYDN: SYMPHONIEN Nr. 94, 95, 98, 99, 101, 103; PAAVO JÄRVI dirigiert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen; RCA

Haydn in power!

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Eine neue Gesamteinspielung von Haydns „Londoner Symphonien“ ist im Entstehen. Beethoven, Schumann und Brahms haben sie schon im Kasten. Seit Herbst 2021 macht sich die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter ihrem langjährigen Chefdirigenten Paavo Järvi daran, mit Haydns Londoner Symphonien die Eiger-Nordwand ihrer symphonischen Höhenflüge zu bezwingen. 20 Jahre währt schon die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem norddeutschen Edelklangkörper und dem estnischen Dirigentenstar, die bei Haydn in idealtypischer Weise kammermusikalische Feinzeichnung, historisch informierte Artikulation mit kraftvoller Agogik und opulentem Klang zu verbinden weiß.

Vielleicht können das andere auch sehr gut. Aber die rhythmischen Zügel straff zu halten und an den richtigen Stellen ein wenig schleifen zu lassen, ergibt genau jene Freiheit in der Phrasierung, jenes organische Atmen, jenen Swing, die die symphonische Musik Haydns braucht, um sich zu voller Pracht entfalten und in ihrer forschen Keckheit aufblühen zu können.

Der Haydn der Londoner Symphonien, das eint ein zu Ende gehendes Barockzeitalter, die auf Ratio bauende Aufklärung und das Aufkeimen der Romantik mit ihrem Streben nach Individualisierung und zunehmender Idealisierung.

Die Wahl der Tempi und die dynamische Charakterisierung, das Herausstellen von „unerwarteten“ Gags und humorvollen Einsprengseln, die Gestaltung von Schleuderkurven im eloquentem Auf und Ab, all das beherrscht Paavo Järvi aufs berauschendste. Die Überdrehtheit manches Satzes, die Balance der Instrumentengruppen, einfach alles scheint in den Diensten eines symphonischen Forschergeistes und Meisters der Instrumentierung zu stehen, der hier zu Ehren kommt wie selten sonst.

Einfach irre, was Järvi mit kontrastreicher Agogik etwa im Andante der Symphonie Nr. 101 in Dur („Die Uhr“) an verblüffenden Effekten, Lebendigkeit und plastischem Ausdruck herausholt. Aber auch die Gestaltung der Sätze eines Werks im einem weit gedachten Bogen, ihr Mit- und Zueinander in ihrem Aufbau fasziniert. Natürlich muss Haydn mit „einer spezifischen Leichtigkeit gespielt werden, die sich von der Mozarts durchaus unterscheidet.“ (P. Järvi). Und natürlich ist, wie P. Järvi betont, „der Humor eines der wichtigsten Kriterien seiner Musik, das leider nicht immer entsprechend gewürdigt wird.“

Folgerichtig kann P. Järvi (und auch der Rezensent) wenig mit den Interpretationen anfangen, die „zu langsam, zu schwer“ sind. Das heißt aber nicht, dass Haydn nicht substanzvoll und geschärft gespielt werden muss. Im Gegenteil, wie P. Järvi mit den bisher vorliegenden Symphonien eindringlich unter Beweis stellt. Beispiele gäbe es in den bisher zwei erschienenen Alben etliche zu erwähnen, aber ich will wieder die 1794 komponierte Symphonie Nr. 101 bemühen, deren Finale-Vivace gegen Ende zu immer energischer tobt und rast, kontrapunktisch leuchtet und die Luft mit Elektrizität lädt. Unglaublich, wie hier schon so vieles auf Beethoven verweist, dessen erste Symphonie fünf Jahre später entstehen wird.

Denn Haydn-Symphonien dürfen nicht die harmlose Vorhut vor der Pause sein, für eine große Symphonie von Bruckner oder Mahler danach, sondern sie zählen selbst zum Bedeutendsten der musikalischen Schöpfungsgeschichte des Abendlandes.

Dass das immer mehr Dirigenten und Ensembles erkennen und große Aufnahmeprojekte vollendet bzw. gestartet haben, ist mehr als erfreulich. Ich möchte hier explizit die spannende und verdienstvolle Gesamtaufnahme mit den Heidelberger Sinfonikern unter Thomas Fey und Johannes Klumpp erwähnen und natürlich auch die vorzügliche, im Entstehen begriffene Haydn-Symphonien-Edition 2032 (300. Geburtstag von Haydn) mit dem Kammerorchester Basel unter der musikalischen Leitung von Giovanni Antonini, die gerade bei Vol. 16 hält. Auch Adam Fisher hat sich mit dem Danish Chamber Orchestra daran gemacht, die späten Haydn Symphonien nochmals einzuspielen. Dazu kommen exzellente Einzelinitiativen wie etwa diejenige des Concerto Copenhagen und Lars Ulrik Mortensen, der mit der jüngsten Einspielung der Sinfonien Nr. 43 in Es-Dur, „Merkur“, Hob. I/43, Nr. 44 in e-Moll, „Trauer“, Hob. I/44 und Nr. 47 in G-Dur, „Palindrom“, Hob. I/47 den unbekannteren Haydn wieder vor dem Vorhang bitten möchte.

Aber zurück zu Paavo Järvi und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. 2023 ist der erste Teil mit den Symphonien Nr.101 in D-Dur, Hob. I/101 und Nr. 103 in Es-Dur. Hob. I/103 erschienen, im September dieses Jahres ein Doppelalbum mit den Symphonien Nr. 94 in G-Dur, Hob. I/94 („mit dem Paukenschlag“), Nr. 95 in c-Moll, Hob. I/95, Nr. 98 in B-Dur, Hob. I/98 und Nr. 99 in Es-Dur, Hob. I/99.

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Über die erste ist schon geschrieben worden, sie wurde mit dem OPUS-Klassik 2024 ausgezeichnet und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen vom Klassik Magazin Grammophone zum weltweiten „Orchestra of the Year“ 2023 / 24 gekürt. Die Fortsetzung mit den vier genannten Symphonien kann dasselbe Top-Level halten und ist mit Sicherheit eine der erfreulichsten und packendsten Neuerscheinungen des zu Ende gehenden Jahres. Dazu ist die technische Qualität der Aufnahmen ein wahrer Traum an audiophiler Klangkultur. Die schönste (Weihnachts-)Empfehlung, die ich aussprechen kann.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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