CD JOSEPH BODIN de BOISMORTIER: LES QUATRE SAISONS – frivol unterhaltsame Solokantaten auf die Jahreszeiten; Château de Versailles Spectacles
Ohrenschmeichelnde Schmankerln französisch barocker Lustbarkeiten
„C’est en fait, á Bacchus, je cède la victoire, Garde toi, Dieu d’Amour, de troubler mes plaisirs.“ Aus „Sommer“ (= „Es ist geschehen, an Bacchus gebe ich den Sieg ab, Hüte Dich, Gott der Liebe, meine Freuden zu stören.“)
Ein großer, Rameau ebenbürtiger Künstler war er und noch dazu geschäftstüchtig wie kaum ein anderer seiner zeitgenössischen Kollegen. Boismortier, der vor allem ein voluminöses instrumentales Oeuvre hinterließ, war einer der ersten und wenigen Tonsetzer seiner Zeit, der alleine von seiner Kunst leben konnte. Da er frühzeitig seine gedruckten Partituren einer breiteren Öffentlichkeit anbot, war er weder von Aufträgen der Kirche noch solchen des Adels abhängig. Ein Pfundskerl, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts musikalisch originelle Werke großer Strahlkraft schuf.
Französische Barockmusik gehört zu den elaboriertesten ihrer Art. Genüsslich werden Gottesgnadentum, Sinnlichkeit sowie die Vanitas alles Seins besungen bzw. fallweise gehörig auf die Schaufel genommen. Boismortier schuf mit seinen Balletten „Voyages de l’Amour“, „Don Quichotte chez la Duchesse“ als auch der Pastorale „Daphnis et Chloé“ zauberhafte Werke von unglaublichem Liebreiz. Voller unsere intimsten Rezeptoren kitzelnder Klangmagie, die nicht nur den offiziellen Kanon der französischen Vokalmusik immens bereichert haben, sondern auch in vorzüglichen Aufnahmen vorliegen.
Die 1724 publizierten, die vier „Jahreszeiten“ besingenden Kantaten für Solostimme waren und sind in Kennerkreisen populär. Hugues Cuénod und Gerard Souzay zählen zu den Pionieren der Schallplattengeschichte, die sich dieser reizvollen Airs angenommen haben. Kammermusikalisch instrumentiert, wurden sie zuerst getrennt veröffentlicht, wiewohl Boismortier als ausgefuchster Geschäftsmann darauf achtete, sie zusammen („Cantates francaises á voix seule, mêlées de symphonies“) oder zumindest als Sammlung veröffentlichen und verkaufen zu können. Der „Frühling“ war Ihrer Hoheit, Louise-Bénédicte de Bourbon, Herzogin du Maine, gewidmet und der Zyklus insgesamt eng mit den Kammerkonzerten der Herzöge am Hofe von Sceaux („Nuits de Sceaux“) verbunden. Im Übrigen war die Gattung damals auch bei Amateuren en vogue und damit nach heutigen Maßstäben bestsellerverdächtig
In der vorliegenden Einspielung werden die Instrumentalisten (Violinen, Viola da Gamba, Theorbe, Traversflöte) des Orchestre de l’Opéra Royal voller Charme und quirlig-aufgeweckt von der wunderbaren Tonträgerdebütantin Chloé de Guillebon geleitet. Als Solisten und Solistinnen wurden junge Stimmen gewählt. So verkörpern der einschmeichelnde Sopran von Sarah Charles den Frühling, der schlanke Tenor Enguerrand de Hys den Sommer, der charaktervolle BariTenor Marc Mauillon den Herbst sowie die lyrisch auftrumpfende Sopranistin Lili Aymonino den Winter.
Boismortier wusste das poetisch reizvolle, mehr als unkonventionelle Libretto erfinderisch in saftige Rezitative sowie lautmalende, artikulatorisch delikate da capo Arien, und das in vollendeter Leichtfüßigkeit, zu setzen.
Im Frühjahr zwitschern die Vögelchen gar nicht unschuldig, indem sie den Mythos von Philomela und Prokne aus Ovids Metamorphosen erstehen lassen. Philomela gilt als Gründungsfigur der französischen Kantete, wusste die Sängerin doch mit Melismen, Vokalisen, Verzierungen etc. zu unterhalten wie die Nachtigall in der Natur. Pastorale Stimmungen (Julien Dubruque: „Schäfer haben bekanntlich nichts anders zu tun, als sich der Liebe zu widmen, d.h. den Schäferinnen schönzutun.“) und eine zarte Liebeserklärung an ein nicht näher bezeichnetes Vis-á-vis runden den Reigen der sechs frühlingsergebenen Arien ab.
Der Sommer startet bei Boismortier mit Dürre, Hitze und Gewitter. Phaeton gibt sich die Ehre. Ambivalent erscheint das Verhältnis des Menschen zur Sonne. Die Ernte auf den Feldern geht einher mit Beschwörungen lauer Sommernächte voller erotischer Verheißungen.
Im Herbst geht es ähnlich zu wie in Joseph Haydns Oratorium „Jahreszeiten“. Alles Streben dreht sich um die Weinernte, Trinkerfreuden und dazu animierenden Airs á boire. Lautmalerisch darf dem Blubbern beim Einschenken gelauscht und darüber sinniert werden, „ob der Wein nicht doch besser sei als der Nektar der Götter?“ Jedenfalls wird dem Wesen des Weins jubelnd gehuldigt: „Coule dans nos veines, Viens calmer nos peines, jus délicieux.“ (= „Fließe in unseren Andern, komm und lindre unserer Schmerzen, schmackhafter Saft.“) Die Moral von der Geschicht‘: Es ist schön, sich im Frühling zu verlieben, aber noch viel besser, im Herbst zu trinken!
Der Winter ist die musikalisch ausgereifteste Jahreszeit, fast doppelt so umfangreich wie die jeweils anderen. Die Leiden durch Kälte und Winde werden hier ebenso thematisiert wie die Sehnsucht nach dem Frühling. Jupiter wird nicht nur um Milde angefleht, sondern auch unverhohlen mit dem Entzug aller Gaben gedroht, sollte er noch länger Ungemach über die Menschen bringen. Dann kommen Apollo und die Musen zu Wort und Ton. Das finale Divertissement lässt uns über ein Defilee von Terpsichore, Komos (Gott des entfesselten Festes), Bacchus, Mars, Amor, Melpomene und Thalia staunen. Und der Dichter kommt zu dem nicht untröstlichen Schluss: „Le doux Printemps ranime, embellit la nature. L’Été couvre nos champs d’abondantes moissons. L’Automne fait le vin; Le temps de la froideur sert á jouir des fruits de toutes les saisons.“ Was ungefähr so viel bedeutet, als dass im Winter all das genossen werden kann, was die anderen Jahreszeiten hervorbringen.
Tolle Musik, grandios interpretiert! Philosophisch bilden diese Kantaten nicht nur eine reizvolle Alternative zum „Dry January“, sondern auch zu anderen zeitgeistigen Miesepetrigkeiten. Daher nicht lange fackeln, sondern zugreifen!
Dr. Ingobert Waltenberger