CD JOSEF MYSLIVECEK: IL BOEMO – “Berühmter als Mozart und doch vergessen…” – Soundtrack zum Kinofilm von Petr Václav; Erato
Der schöne böhmische Müller als zugereister italienischer Opéra-Seria-Star
Das Internationale Musikfestival Český Krumlov (Krumau) ist eine großartige Sache. In der Moldau sind Paddler am Strampeln, während – die gewaltige Burg samt Glockenturm im Blick – auf Plätzen, Gärten oder einem der freskierten Säle Musik vom Mittelalter bis heute erklingt. Gotik, Renaissance oder Barock, die Stadtansicht hat schon Egon Schiele, fasziniert und zu einigen seiner reizvollsten Gemälde und Zeichnungen animiert, im dortigen Egon Schiele Art Centrum nachzuverfolgen. Ich war in diese Stadt ebenso vernarrt, dazu brachte Krumau auch meine erste Begegnung mit dem lyrischen Schaffen des Josef Msylivecek. In einem Plattengeschäft entdeckte ich die überaus reizvolle Supraphon-Aufnahme seiner Oper „Il Bellerofonte“ mit Lindsley, Ahlstedt, Gimenéz, Laki und Margita aus dem Jahr 1987 mit dem Prager Kammerorchester unter Zóltan Peskó.
Seither begeistert mich die – stilistisch vereinfacht gesagt – ‚mozartische‘ Musik von Myslivecek in ihrem überbordenden melodischen Einfallsreichtum, den harmonischen und atmosphärischen Kontrasten, ihrer koloraturseligen Virtuosität. Obwohl die Beantwortung der Frage, was da wer von wem gelernt hat, der Fantasie des Lesers überlassen bleibt. Obwohl es mittlerweile weitere, leider nicht nur empfehlenswerte Aufnahmen von „L’Olimpiade“, „Adamo & Eva“, „Medonte“ und „Abramo e Isacco“ gibt und Stars wie Bartoli, DiDonato („Eden“) oder Kožená („Le belle immagini“) einzelne Arienkostproben in ihre Soloalben integriert haben, ist sowohl über die Musik von Myslivecek als auch sein Leben im Vergleich zu anderen Komponisten des 18. Jahrhunderts allgemein relativ wenig bekannt.
Dabei erzählt seine spärlich dokumentierte Vita selbst für die im 18. Jahrhundert so vielfältigen und spannenden künstlerischen Lebensentwürfe von spektakulären Brüchen, einem überdrehten Karrierehype sowie einem traurig-kläglichen Ende. 1737 wurde Josef gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Jáchym in Prag in eine wohlhabende Müllersfamilie hineingeboren. Nach dem Tod des Vaters erlernten die beiden Brüder das Müllershandwerk, Hydraulik und Mathematik inklusive. Mit 21 wurde Josef in die Müllerzunft aufgenommen, drei Jahre später war er Meister. Daneben gab es eine profunde Musikausbildung, u.a. auf der Geige. In Prag versuchte sich Josef zuerst an sechs Symphonien, die er anonym aufführen ließ, um die Reaktion des Publikums auszuloten.
Das Experiment glückte, und Josef setzte einen spektakulären Schritt. Er ließ den Müller Müller sein und brach am 5.11.1763 nach Venedig auf, um dort Oper bei Pescetti zu studieren. Dann ging es Schlag auf Schlag: 1765 wurde seine erste Oper „Il Parnasso“ nach einem Libretto von Pietro Metastasio in Parma aus Anlass der Hochzeitsfeierlichkeiten von Josef II. uraufgeführt. Gleich der zweite Opernversuch („Il Bellerofonte“ für die Geburtstagsfeier des neapolitanischen Königs Karl III. geschrieben) katapultierte Myslivecek in den Olymp der italienischen Opera seria Tradition. 1767 wurden seine Opern „Farnace“ in Neapel und „Il Trionfo dei Clelia“ in Turin aus der Taufe gehoben. Das erste Aufeinandertreffen Mysliveceks mit dem vierzehnjährigen Mozart ist für das Jahr 1770 in Bologna bezeugt. In der Korrespondenz Mozarts und seines Vaters Leopold ist die Begeisterung und die Wertschätzung für das Schaffen Mysliveceks vielfach belegt. Wie Daniel E. Freeman und Petra Johana Poncarovà festhalten, betrachtete der junge Mozart Myslivecek als Mentor und Vorbild eine Komponistenkollegen aus Mitteleuropa, der Aufträge für bedeutende italienische Opernbühnen an Land ziehen konnte, eine Karriere, die Mozart für sich selbst erträumt, aber nie erreicht hat. „Möglicherweise sind jene Musikwissenschaftler nicht weit von der Wahrheit entfernt, die vermuten, dass gerade Myslivecek die Migration von Elementen tschechischer Volksmelodik in die Musiksprache Mozarts vermittelt hat.“ (Booklet zu „Il Bellerofonte“)
Den triumphalen Höhepunkt seiner Laufbahn erlebte Myslivecek mit der Premiere von „Il Gran Tamerlano“ am 26.12.1771 in Mailand. Die Italiener nannten ihn liebevoll „Il Boemo“, Mysliveceks Namen konnten sie wahrscheinlich nicht aussprechen. Obwohl er ordentlich für die vielen Kompositionen in allen Genres bezahlt wurde, kam der verschwenderische und alsbald hoch verschuldete Myslivecek mit dem Geld nicht aus, ab 1776 häuften sich Berichte über gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die Erfolgsgeschichte eine jungen Müllers aus Prag, der auszog, um die Welt der italienischen Oper in Neapel, Venedig und Rom mit seinen 30 Opern in den 1760- er und 1770-er Jahren des 18. Jahrhunderts maßgeblich aufzumischen, kam zu einem abrupten Ende. Nach einer verpatzten Behandlung in einem Münchner Krankenhaus traf der bedeutendste tschechische Komponist vor Smetana letztmals mit Mozart zusammen. 1781 starb Myslivecek verarmt und einsam, von der Gunst des Publikums verlassen.
Regisseur Petr Václav hat nach einer zehnjährigen Vorbereitung einen Film mit dem Titel „Il Boemo“ – mit einem Budget von 120 Millionen Kronen (4,8 Mio. Euro) gehört er zu den teuersten tschechischen Produktionen – über das Leben Mysliveceks fertig gestellt. Václav resümiert: „Myslivečeks Schicksal ist eine ikarische Geschichte über den Aufstieg & Fall eines außergwöhnlichen Künstlers…“ Der Film mit Hauptdarsteller Voitech Dyk wurde in Tschechien und in Italien in der Ästhetik von Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ und Miloš Formans „Amadeus“ gedreht. Der deutsche Pianist Philip Hahn verkörperte den jungen Wolfgang Amadeus. Die Weltpremiere der tschechisch-slowakisch-italienischen Koproduktion fand im Rahmen des Hauptwettbewerbs des Filmfestivals in San Sebastian im September 2022 statt. Das Historiendrama war Tschechiens Einreichung zu den Oscars 2023.
Natürlich ist der Soundtrack zu einem Film über einen Komponisten genauso wichtig wie der Film selbst. Das Label Erato bringt nun die gesamte Musik des Films auf einem 84 Minuten-Album mit Ausschnitten aus den Opern „Ezio“, „Demetrio“, „Adamo & Eva“, „Il Demofonte, „Armida“, „Romolo ed Ersilia“ und vor allem „Il Bellerofonte“ und „L’Olmpiade“ heraus. Die Aufnahmen der Opernszenen und der Musik fanden im Teatro Sociale in Como statt. Als Orchester fungierte das 2005 anlässlich des Projektes Bach – Praha – gegründete Collegium 1704 unter seinem künstlerischen Leiter Václav Luks.
Sowohl von den gewählten Szenen, dem beschwingt-temporeichen, artikulationsmarkanten Dirigat her als auch sängerisch dürfen wir uns über die beste Myslivecek-CD freuen, die es derzeit am Markt gibt. Countertenor Philippe Jaroussky im stimmlichen Spätsommer, die stilgewandte ungarische Sopranistin Emöke Baráth, der zu entdeckende polnische Tenor Krystian Adam, die slowakische Sopranistin Simona Šaturová (in der Rolle der Operndiva Caterina Gabrielli), Sophie Harmsen (welch umwerfendes Stimmkaliber in der dramatischen Arie der Argene „Che non mi disse und dí?“ aus L’Olimpiade“) Juan Sancho, Benno Schachtner als auch die fantastische Raffaella Milanesi als Megacle im „L’Olimpiade“ entzücken mit ihren luxuriösen Stimmfarben, den ebenmäßig geführten Legatophrasen als auch den exzessiven barocken Verzierungskünsten über jedes Maß. Von Myslivecek lautmalerisch hinreißender und idiomatisch persönlich charakterisierter Affektensprache wie Liebe, Sehnsucht, Eifersucht, Reue und Wut oder allem zusammen, kann man gar nicht genug haben.
Trailer zum Film https://www.youtube.com/watch?v=iz5aJvlW09I
Ankündigung des Films im tschechischen Fernsehen mit kurzen Interviews Jaroussky, Luks etc. https://www.youtube.com/watch?v=ihN0B_609Gw
Dr. Ingobert Waltenberger