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CD JOHANNES OCKEGHEM: MISSA PROLATIONUM – L’Ultima Parola; raumklang

25.02.2021 | cd

CD JOHANNES OCKEGHEM: MISSA PROLATIONUM – L’Ultima Parola; raumklang

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Für Bewunderer polyphoner musikalischer Dome gehört die vierzigstimmige Motette „Spem in alium“ des englischen Komponisten Thomas Tallis zum Aufregendsten, was die Renaissancemusik des 16. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Sie wurde für acht Chöre zu je fünf Stimmen a cappella komponiert und steht in der Tradition der venezianischen Mehrchörigkeit.

 

Gehen wir noch ein Jahrhundert zurück in der Musikgeschichte. Da finden wir in der geheimnisvollen a cappella Komposition „Missa Prolationum“ des flämischen Sängers, Geistlichen und Komponisten Johannes Ockeghem ein ebenso faszinierendes Vokalkunstwerk, allerdings „nur“ von vier Solisten interpretiert. Wie zum anderen Dutzend an Messen finden sich die Quellen zu dieser Musik in dem im Vatikan aufbewahrten Codex Chigi.

 

Vergleichbar mit Bach geht es Ockeghem um einen Spagat zwischen strenger mathematischer Ordnung/Klarheit sowie einer scheint es grenzenlosen Freiheit für kompositorische Experimente. Notiert sind in der Messe nur zwei von vier Stimmen. Die beiden nicht notierten Stimmen sind in Kanons zu entwickeln. Ergo singen jeweils zwei Stimmen die gleiche Musik, allerdings in unterschiedlichen Taktarten (2/4-, 3/4-, 6/8- und 9/8-Takt). Dazu ändern sich fortschreitend die Intervalle der Einsätze. Wenn die eine Stimme schließlich eine Oktave höher einsetzt, bedeutet dies auch den Höhepunkt der Messe. Das ist nur die eine, die musikalischen Vertracktheiten für die Sängerschar andeutende Seite.

 

Wie das Clemens Goldberg so anschaulich in seinem Text für das Booklet beschreibt, entstanden zwischen 1440 und 1470 „gleichzeitig mit den revolutionären Raumdarstellungen in der italienischen und französischen Malerei auch neue Raumwahrnehmungen in der Musik.“ Man könnte fast glauben, die einzelnen Stimmen sausen chaotisch wie ausgelassene Engelchen über den Himmel, wiewohl weniger dem Zufall überlassen ist, als es das unbefangene Ohr wahrzunehmen scheint. Alles in der Kunst des 15. Jahrhundert hatte nämlich einen symbolischen Hintergrund. Den braucht aber niemand akademisch zu dechiffrieren, um die Schönheit der Musik und ihre kühnen Volten genießen zu können.

 

Vor allem, wenn die Musik so unwiderstehlich gut gesungen wird, wie vom 2019 spontan gegründeten Vokalensemble „L’ultima parola.“ Axelle Bernage (Cantus), Bernd Oliver Fröhlich (Tenor Altus), Olivier Coiffet (Tenor) und Guillaume Olry (Bassus) werfen sich angstbefreit in das labyrinthische Notenwerk. Mit höchster Intonationssicherheit gelingt ihnen, bei vibratoarmer Stimmführung und klangsinnlichem Aufeinanderhören, Text und Musik zu einem – trotz des spirituellen Ursprungs – rauschhaften Gesamtkunstwerk zu schweißen.

 

Wie immer beim Label raumklang genügt die Aufnahmetechnik höchsten audiophilen Standards.

 

Anmerkung: „Der Name der Messe bezieht sich auf den Begriff ‚prolatio‘. Im Notationssystem der Zeit konnten Notenwerte entweder dreizeitig oder zweizeitig sein. Auf jeder Notenwertebene ergaben sich neue Kombinationsmöglichkeiten. Eine dieser Ebenen wurde mit ‚prolatio‘ bezeichnet.“ (Clemens Goldberg)

 

Hinweis: Ältere Vergleichseinspielungen gibt es u.a. von Musica Ficta (Bo Holten; Naxos) und vom Hilliard Ensemble (Virgin Classics).

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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