CD: Johannes Brahms Ungarische Tänze 1 – 21 Münchner Rundfunkorchester Roberto Abbado, musikalische Leitung BR-Klassik 900360
Eine Reise durch Feuer und Leidenschaft
Es beginnt wie ein heimlicher Flüsterton, eine Ahnung von Musik, die sich erst zögerlich formt, als müsse sie sich ihres eigenen Temperaments bewusst werden. Doch dann – ein plötzlicher Funke, ein Auflodern der Streicher, ein donnerndes Fortissimo, und der erste Tanz reißt mit: die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms sind entfesselt. Diese Musik erzählt keine lineare Geschichte, sondern viele kleine Episoden, verwoben zu einem wilden, mal feurigen, mal melancholischen Reigen. Sie klingen nach Straßenmusikanten in Budapest, nach wandernden Geigern, nach ausgelassenen Festen und bittersüßer Nostalgie.
Die neue Aufnahme von BR-KLASSIK mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Roberto Abbado ist eine Einladung, diese Welt mit offenen Ohren zu erkunden. Hier wird nicht einfach musiziert, hier wird das Wesen der Tänze ergründet – mit einer Mischung aus technischer Souveränität und ungezähmter Spielfreude.
Die Ungarischen Tänze gehören zu den populärsten Werken von Johannes Brahms, doch ihre Ursprünge reichen weit zurück – über den Komponisten selbst hinaus. Sie sind ein Zeugnis der Faszination des 19. Jahrhunderts für die Musik der fahrenden Roma-Musiker und der ungarischen „Zigeunerkapellen“, deren mitreißende Rhythmen und verzierte Melodien das bürgerliche Europa verzauberten. Brahms hatte diese Klangwelt bereits früh kennengelernt, als er mit dem ungarischen Geiger Eduard Reményi auf Konzertreise ging. Die feurigen Rhythmen, die plötzlichen Tempowechsel, die eigenwilligen Tonleitern – all das faszinierte ihn so sehr, dass er begann, eigene Kompositionen in diesem Stil zu schreiben.
Zwischen 1858 und 1869 entstanden die ersten zehn Ungarischen Tänze für Klavier zu vier Händen, die sofort ein Erfolg wurden. Die restlichen elf folgten 1880, und schon bald wurden sie von anderen Komponisten – unter ihnen kein Geringerer als Antonín Dvořák – für Orchester arrangiert. Einige orchestrierte Brahms selbst, darunter die berühmten Tänze Nr. 1, 3 und 10, die er 1874 in Leipzig zur Uraufführung brachte.
Es ist diese doppelte Natur der Tänze, die sie so besonders macht: Sie klingen einerseits improvisiert und ursprünglich, andererseits sind sie meisterhaft komponiert und kunstvoll verarbeitet. Brahms hat nicht einfach Volksmusik übernommen – er hat sie mit seiner eigenen kompositorischen Handschrift veredelt.
Dass diese Musik auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Kraft verloren hat, beweist die aktuelle Aufnahme. Das Münchner Rundfunkorchester bringt unter der Leitung von Roberto Abbado eine klangliche Vielschichtigkeit zum Vorschein, die den Tänzen neue Facetten verleiht.
Abbado, der als Chefdirigent des Orchesters von 2016 bis 2023 wirkte, ist ein Gestalter des orchestralen Feinsinns. Er weiß, Dynamik aufzubauen, Spannung zu halten, die Musik atmen zu lassen. Hier gibt es keine bloße Reproduktion, sondern eine lebendige Interpretation: Der erste Tanz beginnt mit wuchtigem Stolz, der dritte hat eine unbändige Leichtigkeit, der fünfte – vielleicht der berühmteste von allen – beginnt elegant, um dann in ein rasantes Finale zu münden.
Besonders faszinierend ist das Spiel mit den Kontrasten: Mal scheint die Musik wie eine ferne Erinnerung zu flüstern, dann bricht sie mit voller Kraft hervor. In den ruhigen Passagen hören wir sanft gespielte Streicherlinien, die fast wie eine Frage im Raum stehen, während die kraftvollen Tutti-Momente in ihrer Klarheit und Energie den Atem rauben.
Natürlich gibt es viele Einspielungen der Ungarischen Tänze, doch diese Aufnahme besitzt eine besondere Qualität. Sie vereint Spontaneität, Präzision mit Leidenschaft. Die Musiker agieren nicht als bloße Interpreten einer Partitur, sondern als Erzähler, die die Emotionen dieser Tänze zum Leben erwecken.
Die technische Qualität der Aufnahme ist dabei ausgezeichnet: Jede Pizzicato-Note der Streicher, jedes Crescendo der Bläser, jede feine Nuance der Dynamik ist mit Sorgfalt eingefangen. Doch jenseits der Technik bleibt vor allem eines: das Gefühl, mitten in der Musik zu stehen, sie zu erleben, mit ihr zu tanzen.
Wenn der letzte Tanz verklingt, wenn das letzte Echo der Musik in der Stille nachhallt, bleibt das Gefühl einer Reise. Einer Reise in eine Zeit, in der Musik auf Straßen und in Salons gleichermaßen lebte, in eine Welt, in der Tanz ein Ausdruck purer Emotion war.
Diese Aufnahme der Ungarischen Tänze ist mehr als nur eine CD – sie ist eine Einladung, Brahms’ Musik neu zu entdecken. Und vielleicht, nur vielleicht, hört man nach dem letzten Ton noch immer einen fernen Rhythmus, der in der Luft schwebt.
Dirk Schauß, im März 2025
Johannes Brahms
Ungarische Tänze 1 – 21
Münchner Rundfunkorchester
Roberto Abbado, musikalische Leitung
BR-Klassik 900360