CD: JOHANNES BRAHMS Symphonien 1-4; YANNICK NÉZET-SÉGUIN dirigiert das Chamber Orchestra of Europe; Deutsche Grammophon
Prickelndes Rauschen im Brahms-Wald
Ein Tausendsassa ist dieser kanadische Musiker: Als Pianist und vor allem als Dirigent hat der charismatische junge Orchesterleiter eine erstaunliche Weltkarriere hingelegt: Er ist nicht nur Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York (vorerst bis 2030), des Philadelphia Orchestra (seit 2012, bis 2030 verlängert) und des kanadischen Orchestre Métropolitain (Vertrag auf Lebenszeit), er dirigiert ebenso die Berliner oder Wiener Philharmoniker. In Salzburg und in Baden-Baden ist er sehr gern gesehener Gast. Nebenbei ist er Ehrendirigent des Rotterdams Philharmonisch Orkest und Ehrenmitglied des Chamber Orchestra of Europe.
Als Operndirigent beherrscht Nézet-Séguin ein breit gestreutes Repertoire von der Barockmusik über Klassik, (Spät)Romantik und die klassische Moderne bis hin zu Uraufführungen. Kein Wunder, dass Nézet-Séguin es sein wird, der an der Metropolitan Opera die nicht nur von eingefleischten Wagnerianern heiß erwarteten Rollendebüts von Lise Davidsen als Isolde und Brünnhilde musikalisch leiten wird. Als ehemaliges Mitglied des Vokalensembles Chœur Polyphonique de Montréal versteht er aus eigener Erfahrung sehr viel von der menschlichen Stimme.
Heute wollen wir uns mit der symphonischen Begabung des vielseitigen Musikers beschäftigen. Nézet-Séguin, der gerade dabei ist, mit dem Orchestre Métropolitain einen Beethoven-Zyklus zu erarbeiten, hat jeweils im Juli 2022 und 2023 in Baden-Baden mit dem Chamber Orchestra of Europe alle vier Symphonien von Johannes Brahms aufgeführt, die Deutsche Grammophon war mit den Mikros dabei.
Was beim Hören sofort auffällt, sind neben der kammermusikalischen Durchhörbarkeit in den einzelnen Orchesterstimmen und deren lustvoll ausgekostete Expressivität die flüssigen Tempi, die hart aufeinander prallenden Kontraste sowie die Geschmeidigkeit der Übergänge sowie die hoch interessante Ausformung von Details, die Nézet-Séguin als genuinen Meister und empfindsamen Erkunder des romantischen Repertoires ausweisen. Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, dass dies der einzige Brahms-Zyklus für die einsame Insel ist, aber er bietet taufrisch gelesen und gut durchlüftet reinste musikalische Wonnen.
Beginnend mit den Herzschlag-Pauken im Un poco sostenuto des ersten Satzes der c-Moll Symphonie erleben wir eine musikalische Reise durch die klingenden seelischen Landschaften des unerschöpflichen Erfindergeistes von Brahms gleich einer herbstlichen Wanderung entlang dramatisch schroffer Gebirgslandschaften und sanfter Almen, wo jede Minute mit einer anderen Perspektive, einer unerwarteten Begegnung, einem leuchtenden Farbenspiel durchzogen von zu Klang gewordenen Duftmiasmen überrascht.
Überhaupt scheinen die Symphonien des Johannes Brahms Dringliches von der wankelmütigen menschlichen Existenz und ihrem Sein in der übermächtigen Natur zu erzählen. Da wird in dieser „Ersten“ vielleicht um den dornigen Weg von der Dunkelheit zum Licht gezeichnet. Der Ekstase im vierten Satz (Più allegro) gehen so manch melancholische Einkehr, manch Zweifel und ein düsterer Blick in den Abgrund voraus. Aber nicht nur: Jansons etwa empfand das ‚Andante sostenuto‘ (2. Satz) als eine tiefe, innige Musik, wie ein lyrisches Gedicht. Yannick Nézet-Séguin vermag mit dem atmosphärisch grandios aufspielenden, in den Streichern warm und edel klingenden Chamber Orchestra of Europe genau diesen Gedanken nachvollziehbar Gestalt annehmen zu lassen.
Im dschungelwilden Gestrüpp motivisch-thematischer Beziehungen des ersten und vierten Satzes jongliert er ohne Seil mit den ständig sich wandelnden Variationen. Und das in einer Leichtigkeit und jungenhaften Unbeschwertheit, die jeglicher bleierner Schwere entgegenwirkt. Den Finalsatz mit dem berühmten Alphorn kann bei Nézet-Séguin nach der Art Bernsteinschen Überschwanges irgendwo zwischen Beethoven (Neunte) und Mahlers Dritter verortet werden. Und wieder ist es die Elastizität, die mir so besonders auf- und gefällt sowie neben der rhythmischen Kante und den voran schießenden Tempi den Wesenskern dieser Interpretation ausmacht. Wir müssen bei der neuen Aufnahme nicht, wie Eduard Hanslick das einst meinte, ‚die feinsten contrapunktischen Kunststücke‘ opfern, um ‚ein Stück warmen Sonnenscheins, bei dem uns das Herz aufgeht‘, zu bekommen. Yannick Nézet-Séguin lässt beides neben- und miteinander existieren.
Die zweite Symphonie in D-Dur geht Nézet-Séguin gemächlich an. So braucht der Kanadier im Vergleich zu der ebenfalls vorzüglichen Aufnahme mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Robin Ticciati über sechs Minuten für den ersten Satz mehr an Zeit. Ob diese „Lichtentaler Symphonie“, die Brahms wie das Finale der Ersten in Baden-Baden (von Pörtschach am Wörthersee kommend) fertig geschrieben hat, von den genii loci profitiert? Könnte schon sein, denn Nézet-Séguin modelliert weit geatmete Phrasen, badend in bukolischer (Schein-)Idylle, nostalgischer Wehmut, eine mächtige Vorahnung auf den symphonischen Kosmos von Anton Bruckner hinterlassend. Wo ‚großes Espressivo‘ verlangt wird, bietet Nézet-Ségin das auch an. Überhaupt dreht der Dirigent einen gefühlt stählern durchwirkten Spagat zwischen dem Grübeln und Grummeln etwa im sehnsuchtstrunken aufbegehrenden Adagio der Symphonie, dem sich rasch von salonhafter Eleganz zum Ländlerreigen steigernden dritten Satz und der nervös zuckenden Euphorie im Allegro con spirito.
Die in Wiesbaden vollendete dritte Symphonie in F-Dur stellt Nézet-Séguin nach dem sich alsbald travestierenden heroischen Beginn drahtig kontrastreich und quirlig launenhaft dar. Wir können wie Clara Schumann in dieser Musik ‚das Rinnen der Bächlein, das Spielen der Käfer und Mücken‘ wahrnehmen, aber uns ebenso komplexere Gefühlsregungen imaginieren. Der beispiellosen Schönheit der melodischen Eingebungen und Themen packt Nézet-Séguin diese wundervoll von Brahms hineingeschwindelte faustische Ironie und Spiegelfechterei ins Begleitwagerl. Dem rätselhaften, Schicksalshaftigkeit entströmenden lyrischen Gesang im Poco allegretto (das einige aus dem Film „Aimez-vous Brahms?“ kennen werden) folgt das wie ein urgewaltiger Sommersturm sich entladende Allegro. Es begeistert, wie Nézet-Séguin äußerste Intensität in den rhythmisch unwegsamen symphonischen Abläufen streckenweise mit Rasanz, stets lebendiger Agogik und Eleganz der Übergänge zu einem orchestralen Hymnus verschmilzt.
Spätestens in der maskiert konservativen vierten Symphonie in e-Moll zeigt sich die Überlegenheit der Besetzung eines Kammerorchesters vornehmlich in den kontrapunktischen Figuren und dem variationenreichen, fantastischen Passacaglia-Finale. Nézet-Séguin heizt die Spannung mit waghalsigen Temposchürzungen und rauschhafter Emphase gehörig an, im zweiten phrygisch-archaischen Satz lässt er die Musik ruhig meditativ ihre originellen Bahnen ziehen. Da zwitschern die Streicher wie die Lercherln, immer wieder packt den Hörer ein pochender Herzschmerz. Im Finale feiert Nézet-Séguin den überbordenden Reichtum der Brahmsschen Invention und verbindet ihn mit derart sinnlichen, energetisch aufgeladenen Klangwogen, dass jegliche Überlegung über die Kluft von Intellektualität versus Empfinden mit einem Handstreich beiseite gewischt ist.
Nézet-Séguin auf dem Brahms-Olymp angelangt! Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger