CD JOHANNES BRAHMS: Klavierquartette Nr. 2 und 3 – Lars Vogt Klavier, Christian Tetzlaff Violine, Barbara Buntrock Viola, Tanja Tetzlaff Cello; Ondine
„Sie dürfen auf dem Titelblatt ein Bild anbringen, nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hose und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden…“ Brahms vom 12. August 1875 an seinen Verleger Fritz Simrock über das c-Moll Quartett (
Ursprünglich war eine Gesamtaufnahme aller drei Klavierquartette von Brahms in dieser Besetzung geplant: Aber Lars Vogt, sympathischer, humorvoller und allseits vom Publikum, Schülern und der Kollegenschaft geschätzter Pianist, Dirigent und Musikprofessor, sollte aufgrund einer aggressiven Krebserkrankung dazu nicht mehr in der Lage sein. Er starb am den 5. September 2022, drei Tage vor seinem 52. Geburtstag.
Das beinahe 50 Minuten lange Klavierquartett Nr. 2 in A-Dur, Op. 26, wurde im März 2022 im Sendesaal Bremen unter Studiobedingungen aufgenommen. Danach ging es mit dem Stück ebenda nochmals live ins Konzert, als Ergänzung spielte das Quartett das dritte Klavierquartett in c-Moll, Op. 60. Da es zu keiner Studioproduktion des Letzteren mehr kommen konnte, haben sich die drei Streicher in Kenntnis des Willens des Pianisten dazu entschieden, den Live Mitschnitt dieses Konzertteils zu veröffentlichen.
Die beiden Stücke enthalten ein dicht gewebtes, zwischen kräftigen Rottönen und fahlem Grau changierendes musikalisches Universum. Wir entdecken darin entgegengesetzte Pole des Lebens, die einander ergänzen und vom reichen Innenleben und der kompositorischen Meisterschaft seines Schöpfers berichten.
Während das ausufernde A-Dur Quartett des jungen Brahms in zarten, mal melancholisch geheimnisvollen, mal überschwänglichen Tönen ein wunderschönes Lied vom wechselnden Licht des Lebens singt (Tanja Tetzlaff: „Dieses Spiel mit dem Rhythmus, diese Triolen gegen die Achtel, die sich durch das ganze Werk ziehen. Das ist unglaublich liebevoll und schwärmerisch.“) weist das düstere c-Moll Quartett in andere Gefilde. Christian Tetzlaff vermutet, dass es sich um eine „Reflexion über das Ableben Schumanns“ handeln könnte. In Töne gegossene Erinnerungen, damit einhergehende Gefühle, die Vergangenheit spiegelnde Bilder. Und so erhält Lars Vogts letzte Aufnahme im Lichte eben dieses c-Moll Quartetts eine metaphysische Note.
Was bei der Interpretation des A-Dur Klavierquartetts auffällt, ist die besondere Mischung aus leisem poetischem Wogen im Allegro non troppo und dramatisch zupackenden, akzelerierten Gegenwelten etwa im kontrapunktisch ungestümen, Zitate nutzenden Trio des Scherzos. Das angedeutet Mozartische im seelenerforschenden Poco Adagio wird überaus duftig zelebriert. In den effektvollen magyarischen Kehraus des Finales stürzt sich das Quartett mit beschleunigender Rasanz, Temperament und erregter Fabulierlust.
1875 vollendete Brahms das dritte, c-Moll Klavierquartett, in das er überarbeitete Teile aus einem 1855 begonnenen cis-Moll Quartett integrierte. Autobiografisch die Ambivalenz seiner Gefühle zu Clara und Robert Schumann (verzweifelte Liebe versus unverbrüchliche Freundschaftsverbundenheit) offenlegend, ist es zumindest im ersten Satz und im wilden Scherzo von einer von Brahms selbst so bezeichneten „Werther Stimmung“ durchwirkt.
Die Interpretation von Vogt, C. und T. Tetzlaff sowie Buntrock ist ausgehend von einem vulkanisch eruptiven ersten Satz über das rastlos, unerbittlich rasende Scherzo, das herbsüß spätsommerliche Andante bis hin zu dem in weltverdrießlicher „Apotheose“ schwelgenden Finale von einer atemberaubenden Intensität. Da begegnen wir feinst empfundener Kammermusik am Limit der Möglichkeiten an Ausdruck und Verinnerlichung zugleich. Wie so oft bei allerhöchster Kunst, entzieht sich das große Wunder der musikalischen Wahrhaftigkeit jedem Wort.
Dr. Ingobert Waltenberger