CD JOHANN ADOLF HASSE „L’OLIMPIADE“ – Mitschnitt einer konzertanten Aufführung von den Dresdner Musikfestspielen 1992 in der Semperoper; Profil, Edition Staatskapelle Dresden
Da wird ein in eine protestantische Pastorenfamilie hineingeborener Bub aus dem norddeutschen Bergedorf, soweit normal, als Kind Sänger im Kirchenchor. Als Mattheson-Schüler war dieser Musikus, kaum 19, bereits ein gefragter Operntenor. Ein paar Jahre später war der zum Komponisten avancierte Vokalakrobat nach kurzen Studien in Italien daselbst der Vorzeigetonsetzer par excellence. Ab 1725/26 in Neapel, dann in Venedig. Aber nicht nur als Komponist von Opern und komischen Intermezzi, weltlicher Instrumental- und Vokalmusik, sondern auch als Schöpfer katholischer Kirchenmusik, darunter 11 Oratorien, Messen, Psalmen, Solomotetten und Requien, war Johann Adolf Hasse in der Mitte des 18. Jahrhunderts tonangebend. Für Letzteres legte vor allem die Liebe das Fundament, weil Hasse, um die angebetete venezianische Primadonna Faustina Bordoni heiraten zu können, schnurstracks zum Katholizismus übergetreten ist.
Der Weg nach Dresden war geebnet, wo ein Nachfolger für den Hofkapellmeister Johann David Heinichen dringend gesucht wurde. Ab 1734 erblühte in Dresden unter der Ägide der Hasses die Opern- und Musikszene. Gemeinsam mit dem genialen Violinvirtuosen und Konzertmeister Johann Georg Pisendel erklomm das Hoforchester höchste Gipfel an Spielkultur. Einzigartige Solisten, darunter bis zu ihrem Bühnenabschied 1750 natürlich Faustina Bordoni, trugen dazu bei, dass Dresden das Mekka von Musikbegeisterten landauf landab wurde, zumal Opern- und Kirchenmusikaufführungen kostenfrei zugänglich waren. Nach dem verheerenden siebenjährigen Krieg, als dessen Ausfluss die große Oper in Dresden geschlossen und Hasses Vertrag 1764 gelöst wurde, verlagerten die Hasses ihren Lebensschwerpunkt zunächst nach Wien und 1773 nach Venedig.
Hasses Dramma per musica „L’Olimpiade“ nach einem Textbuch von Pietro Metastasio, Hansdampf in allen Librettogassen der italienischen Opera seria, kam in ihrer ersten Fassung 1756 am königlichen und kurfürstlichen Hoftheater heraus. Metastasio diente als Vorlage Apostolo Zenos Gl’inganni felici. Der erste, der Metastasios Stück vertonte, war Antonio Caldara (Wien 1733), an die 50 weitere Barockkomponisten sollten seinem Beispiel folgen. Metastasios „Didone abbandonata“ brachte es sogar auf 63 Komponisten, etliche von ihnen vertonten den Stoff mehrfach.
Die Prinzessin Aristea (Catherine Robbins Mezzo) wird von ihrem königlichen Vater Clistene (Christoph Prégardien Tenor) als Preis für den Sieger der Olympischen Spiele ausgesetzt. Arkadischer Schauplatz, Liebesverwicklungen und Maskeraden, Fragen von Pflicht und Wollen, bilden den Grundton für Durchschnittssterbliche undurchdringlicher Handlungsvolten und wuchernder Gefühlsdschungel. Nur so viel: Es gibt sieben Rollen, darunter neben den Genannten die kretische Dame Argene (Dorothea Röschmann Sopran) in Verkleidung einer Schäferin, heimlich verlobt mit dem zwischenzeitig in Wahnsinn abdriftenden Licida, vermeintlichen Prinzen von Kreta, der in Wahrheit der als Neugeborener ausgesetzte Sohn des Königs ist (Randall Wong Sopran), heimlich verlobt mit Argene. Licidas Freund Megacle (David Cordier Countertenor) ist verliebt in Aristea, der Hofmeister des Licida heißt Aminta (Steven Rickards Countertenor) und Alcandro ist der Hofmeister des Königs (ebenso von Steven Rickards gesungen).
In Dresden entschied man sich 1992, Hasses „L’Olimpiade“ in den Arien und Rezitativen massiv für eine einzige Matinée zurechtgestutzt, dafür, einen Sprecher zu engagieren, der die „inhaltlichen Lücken schließen, aber auch das fehlende theatralische Moment verkörpern sollte.“ Auf der CD ist der Part des Sprechers aus Gründen der internationalen Vermarktung allerdings nicht integriert.
Dirigent Frieder Bernius, ein Glücksfall an schwungvoller, emotional polystimmiger und gestenreicher, musikalischer Realisierung, hat auf eine in der Sächsischen Landesbibliothek verwahrte Partiturabschrift zurückgegriffen. Die Musik Hasses ist in ihrer virtuos-empfindsamen Vielschichtigkeit, ihrer die stets wechselnden Gemütsverfassungen der Protagonisten widerspiegelnden Tonsprache, der raffinierten Instrumentierung, schlicht und einfach grandios.
Die Cappella Sagittariana, erstmals unter diesem Namen im „Schütz-Jahr“ 1972 aufgetreten, setzt sich aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle als auch anderen Musikern zusammen. Die Cappella verwendete ein gemischtes, historisches wie modernes (Hörner) Instrumentarium. Der Klang ist von der Ouvertüre weg hinreißend lebendig und farbenprächtig.
Bei der Besetzung möchte ich mich auf den US-amerikanischen Sopranisten chinesischer Abstammung Randall Wong als Licida konzentrieren. Das männliche Sopranfach in Barockopern, aktuell mit jungen Virtuosen wie dem Brasilianer Bruno de Sà und dem aus Honduras stammenden Dennis Orellana spektakulär belebt, hatte schon vor dreißig Jahren mit Wong einen Spitzenvertreter auszuweisen. Der einzigartige leicht anspringende Sopran der Marke lyrische Koloratur konnte einen Stimmumfang bis zum C6 bewältigen. Die Intonation stets lupenrein, begeistern die Stilistik und das exquisite androgyne Timbre, das für mich persönlich aufregendste aller Sopranisten, die ich kenne. Da von diesem Sänger kaum Aufnahmen erhältlich sind, stellt die jetzige Veröffentlichung auch eine erfreuliche diskografische Bereicherung eines unterrepräsentierten Sängers dar. Außerdem hat Wong auf der Aufnahme mit den Arien „Gemo in un punto, e fremo“ (2. Akt) sowie „Consola il Genitore“ (3. Akt) zwei der schönsten Barockoperneingebungen überhaupt zu singen.
Anm.: Eine wunderbare CD hat Wong bei Helikon mit den Soprankantaten von Antonio Vivaldi, RV 678, 651, 660 und 680 aufgenommen https://soundcloud.com/rkwomcat/vivaldi-cantata-for-soprano
Aristea wurde von Catherine Robbin, der hell timbrierten kanadischen Mezzosopranistin, einst Grande Dame der Alten Musik Szene rund um Gardiner, in die extremen Affekte umhüllender Noblesse verkörpert. Die sich in bester Verfassung zeigenden Stars Christoph Prégardien als König Clistene und Dorothea Röschmann als Argene klingen genauso luxuriös und unverwechselbar, wie man sich das von ihnen erwarten durfte. Ihre vokalen Beiträge zählen zu den ungetrübt erfreulichen Momenten des Mitschnitts.
Bei den Countertenören hat David Cordier als Megacle, olympischer Spitzensportler mit Selbstmordgedanken, technisch äußerst anspruchsvolle Arien als auch das einzige Duett der Oper (mit Aristea) zu singen. Die Mittellage sämig goldbronzen getönt, kommt Cordier bei den Spitzentönen in der ersten Arie des ersten Akts („Superbo di me stesso“) hart an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Steven Rickards absolviert seine Beiträge weißstimmig korrekt.
Wie bei anderen Barockopern unüblich, kann der fabelhafte Kammerchor Stuttgart in Hasses „L’Olimpiade“ in fünf Auftritten sein gewohnt hohes Niveau unter Beweis stellen.
Im reich illustrierten Booklet sind neben informativen Beiträgen zu Handlung, Musik und Mitwirkenden als Rarität die Figurinen von Francesco Ponte, das sind die erhaltenen Kostümzeichnungen für die Uraufführung der „Olimpiade“ abgebildet. Ein zweites, ebenso großzügig gestaltetes Büchlein enthält das Libretto in italienischer Sprache und deutscher Übersetzung.
Fazit: Vier Spitzensolisten, ein beherztes Orchester und ein die Kontraste der Musik schärfender Frieder Bernius machen die die Oper leider nur gekürzt wiedergebende Aufnahme zum Erlebnis und unverzichtbaren Dokument der leidenschaftlichen Pflege Alter Musik bei den Dresdner Musikfestspielen.
Dr. Ingobert Waltenberger