CD: JÖRN W.WILSING in memoriam
(Hamburger Archiv für Gesangskunst – 4 Boxen mit 11 CDs)
In der verdienstvollen Reihe mit Aufnahmen von Sängern, die trotz ihres hohen Standards von der offiziellen Aufnahme-Industrie wenig beachtet wurden, ist auch eine Sammlung von Tondokumenten mit dem 1940 in Hamm/Westfalen geborenen und 2010 kurz vor seinem 70. Geburtstag in Stuttgart verstorbenen Bariton Jörn W.Wilsing erschienen. Der gelernte Industriekaufmann kam nach dem Gesangsstudium in Köln und München sowie Anfänger-Stationen in Coburg, Gießen und Karlsruhe 1969 ans Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz, wo er sich schnell ein breiteres Repertoire erarbeitete. Nach fünf Jahren wechselte er ans Opernhaus Dortmund, doch infolge des baldigen Todes des dortigen GMDs Wilhelm Schüchter kehrte er nach Karlsruhe zurück. 1977 folgte er dem Ruf an die Württembergische Staatsoper Stuttgart. Als inzwischen gefragter Gast an weiteren Bühnen und für zahlreiche Rundfunkaufnahmen wäre er nicht unbedingt auf ein weiteres Festengagement angewiesen gewesen, doch in Stuttgart bestand Nachholbedarf im Baritonfach. Dort erweiterte er bis zu seiner Pensionierung 2005 sein beständig gewachsenes Repertoire von anfangs lyrisch spielerisch bis zu dramatischeren charakterdarstellerischen Partien, wobei er die letzten Jahre aufgrund von Krankheiten gezwungen war, sein Wirken deutlich zu reduzieren.
Grob auf den Punkt gebracht gehört Wilsing zu den selten gewordenen Vertretern des Kavalier-Bariton in Verbindung mit einer persönlichkeitsverankerten Heiterkeit und einem Charme, der ihn auch für die Operette und das Musical prädestinierte. Als Deutscher verfügte er über eine ungewohnt souveräne Technik für den canto fiorito, weshalb Rossini und Donizetti lange zu seinem herausragenden Einsatzbereich gehörten. Im Übrigen spannte sich seine Bandbreite quer durch alle Epochen und alle Sparten. Im Beilagenheft dieser Edition ist sein Stimmcharakter mit einer heute selten gewordenen gesangshistorischen Veranlagung und Einordnung beschrieben. Wilsings Karriere führte an viele Bühnen bis zu den Salzburger Festspielen, dennoch ist er ob seines gesamtheitlichen Könnens zu Unrecht im Schatten namhafterer Kollegen wie z.B. auch dem ihm in seiner Volkstümlichkeit nahestehenden Hermann Prey gestanden.
Wilsings Stimme lebendig zu halten bedeutete eine Durchforstung von Privatsammlungen und Rundfunk-Archiven (SDR und SFB – in Berlin war er regelmäßiger Gast bei konzertanten Raritäten-Aufführungen). Bei dieser Retrospektive rund ein Jahrzehnt nach seinem Tod wurden viele Schätze gehoben, die nicht zum gängigen Repertoire gehören, sondern vielmehr mit einer erstaunlichen Auswahl an Werken konfrontiert, die nicht mal versierteren Gesangsfreunden ein Begriff sein dürften: Leoncavallos 1904 für Kaiser Wilhelm geschriebener „Der Roland von Berlin“, Meyerbeers „Ein Feldlager in Schlesien“, Siegfried Wagners „Herzog Wildfang“, von Waltershausens „Oberst Chabert“, Fried Walters „Andres Wolfins“. Auch Moniuszkos „Halka“, Kreutzers „Nachtlager von Granada“, Lortzings „Hans Sachs“, D’Alberts „Die toten Augen“ oder Schillings „Mona Lisa“ bedienen ein weitgehend unbekannt gewordenes Feld. Im Operettenfach stoßen wir u.a. auf Suppés „Banditenstreiche“, Strauß „Casanova“, Linckes „Im Reiche des Indra“ oder Künnekes spätromantisch opernnah rauschende „Lodernde Flamme“ und „Die große Sünderin“.
Zu entdecken ist auch Cimarosas Kantate „Il Maestro di capella“, im Oratorien-Fach Bruchs „Achilleus“ oder Giovanni Sgambatis „Requiem“. Selbst im Liedbereich sind Preziosen wie Hermann Zilchers „Hölderlin“-Zyklus, Karl Sczukas „Fabeln“ oder Franz Salmhofers köstliches „Heiteres Herbarium“ auszumachen.
Beim Hören dieser 11 CDs ist des Staunens kein Ende, was uns die heutige Aufführungspraxis alles vorenthält und mit welcher natürlichen Stimmungsgabe Jörn W.Wilsing ein enormes Pensum vokaler Klassik abzudecken vermochte.
Udo Klebes