CD JOE HISAISHI CONDUCTS: STEVE REICH: The Desert Music, JOE HISAISHI: The End oft he World; Deutsche Grammophon
Live-Mitschnitt vom Juli/August 2024 aus der Suntory Hall Tokio
„Tatsächlich wünsche ich mir, dass meine Musik ebenso natürlich klingt, wie Wolken sich formen oder Jahresringe eines Baumes organisch wachsen.“ Hisaishi
Der bekannteste unter den japanischen Filmkomponisten Joe Hisaishi verdankt seinen Ruhm seinen musikalischen Schöpfungen für die fantastischen Anime-Filme von Hayao Miyazaki und Takeshi Kitano. Ob „Chihiros Reise ins Zauberland“, „Prinzessin Mononoke“, Das wandelnde Schloss“ oder „Mein Nachbar Totoro“, Hisaishi fand die passgenauen Klanglandschaften für diese ins Magisch-Surreale kippenden, die kindliche Perspektive immer mit gestaltenden Märchenwelten der japanischen Zeichentrickfilmstudios Ghibli. Üben konnte Hisaishi für das Genre schon bei den Anime-Serien Sasuga no Sarutobi und Futari Tak. Einfluss auf Hisaishis Stilistik übten amerikanische Minimalisten wie Glass oder Reich.
Musikalisch garantiert auf einem Level mit den berühmten Hollywoodsound-Lieferanten John Williams oder Hans Zimmer gab sich Hisaishi nicht mit der Schubladisierung als Filmmusikschreiber zufrieden, sondern wollte für sich auch das „klassische“ Konzertfach erobern. Wer die Aufnahmen seiner zweiten Symphonie oder der Viola-Saga (Solist Antoine Tamestit) mit den Wiener Symphonikern aus dem Jahr 2023 (live aus dem Wiener Musikverein, erschienen beim Gelblabel) kennt, weiß, dass ihm dies gelungen ist.
Die Suite „The End of the World“, die Hisaishi auf seinem Album „Joe Hisaishi conducts“ vorstellt, ist Ausfluss der Eindrücke, die Hisaishi beim Besuch des Ground Zero in New York einige Jahre nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 gewann. Er wollte mit diesem 2008 uraufgeführten Werk den Gefühlen von Angst und Chaos, das aus dem Kollaps der globalen Ordnung resultiert, eine greifbare akustische Präsenz verleihen.
Ursprünglich dreisätzig – „Collapse“, „Grace of the St. Paul“ und „Bekond the World“ und für 12 Celli, Kontrabass, Harfe, Schlagzeug und Klavier geschrieben – erfuhr die Suite im Lauf der Jahre etliche Änderungen und Erweiterungen. So fügte Hisashi einen vierten Satz mit der Bezeichnung “D.e.a.d“ und seine Rekomposition von Skeeter Davis Pop-Hit aus dem Jahr 1962 „The End oft he World“ als Epilog ein. Auf der vorliegenden Aufnahme werden die Vocals von Ella Taylor und dem Philharmonic Chorus of Tokyo gesungen.
Die komplexe, onomatopoetisch plakative, nie ihre Wirkung verfehlende Musik stützt sich hauptsächlich auf rhythmisch repetitive Motive sowie eine jazzig schlurfende Großstadtatmosphäre, erweitert um Chor und Sologesang. Dazu kommen leitmotivisch eingesetzte Glockenklänge, Sirenen, Saxophonsolo, harmonisch vagabundierende Trauermusiken mit subkutan tröstlicher Zartheit sowie ein lateinischer Choral. Der in der Nachfolge von Gustav Mahler in persönlich poetischen Gefühlen ausgedrückte Abgesang auf verlorene Liebe in Davis‘ „The End of the World“ (dahinter steckt der traumatisch-schmerzvolle Verlust des Vaters der Romanautorin und Songwriterin Sylvia Dee) wird mittels darüber geschichtetem Chor in ein sanftes Gebet, untermalt von ‚Glocken der Hoffnung‘ (Hidekuni Maejima), transformiert. Die lebensbejahende, meditative Schönheit der Musik trägt zu ihrer kathartischen Wirkung bei.
Das mit Hisaishis Future Orchestra Classics (FOC) aufgenommene Album startet mit Steve Reichs 1984 in Köln aus der Taufe gehobener Kantate „The Desert Music“ für Stimmen und Orchester. Auf Texte des von Reich seit Kindheitstagen bewunderten Dichters und Physikers William Carlos Williams (WCW) geschrieben, stellt das Stück formal eine eloquente Hommage zum hundertsten Geburtstag und 20. Todestag 1983 von WCW dar. Im von energetisch-düster pulsierenden Rhythmen und in kontrapunktischer Strenge gelösten Verstrickungen getragenen Stück spielen drei Wüstengebiete eine Rolle: Die im 2. Buch Mose erwähnte Sinai-Wüste, die Mojave-Wüste in Kalifornien, in der die japanischen Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs interniert waren, und die Alamogordo Wüste in New Mexiko, die am 16. Juli 1945 als US-Testgelände für die erste atomare Explosion diente. Bei der mitgeschnittenen Aufführung handelt es sich um die japanische Erstaufführung von „The Desert Music“.
Gewaltige apokalyptische Szenarien und dennoch Durchatmen im Hoffnung-Schöpfen, was böte sich heute als aktueller und dringlicher an? Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger