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CD JESSYE NORMAN – The Unreleased Masters; DECCA

16.03.2023 | cd

CD JESSYE NORMAN – The Unreleased Masters; DECCA

Das Schallplattenvermächtnis der Diva der Superlative ist nun im Wesentlichen komplett zugänglich

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Jessye Norman, eine der profiliertesten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts, Amerikanerin in Paris, mythisches Gesamtkunstwerk. Die elegant geführte Stimme, einzigartig im sonor üppigen Klang, konnte in ihrer besten Zeit von einer märchenhaft resonanzreichen Altlage über eine breite pastose Mittellage bis hin zu mächtigen dramatischen Sopranhöhen alles. Wenn das Repertoire stimmte. Und das war besonders im deutschen Lied- und Konzertfach (vor allem deutsche Romantik, klassische Moderne, später Jazz), bei bestimmten Opern und generell bei allem Französischem der Fall.

Jessye Normans Sopran eignete sich besonders gut fürs Studio, ein Glücksfall für Bewunderer und Nachgeborene. Anhand zahlreicher erstklassiger bis referentieller Ton- und Filmdokumente ist die überwältigende stimmliche Faszination; die von dieser barocken Persönlichkeit mit dem Hang zu extravaganten Roben ausging, jederzeit verschiedentlich nachzuerleben. Ende des Jahres will Universal die Box „The Complete Studio Recitals Decca / Deutsche Grammophon / Philips“ mit 44 CDs und 3 DVDs veröffentlichen.

Als eine der legendärsten CDs darf diejenige mit Orchesterliedern von Richard Strauss, u.a. die „Vier letzten Lieder“ unter Kurt Masur aus dem Jahr 1982 gelten, auf Tonträgern anders, aber auf einem ähnlichen Niveau berauschend nur noch von den Strauss-Primadonnen Elisabeth Schwarzkopf und Gundula Janowitz realisiert. Wie interessant und aufschlussreich, diese „Vier letzten Lieder“ jetzt erstmals in einem Live-Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie mit dem hauseigenen Orchester vom Mai 1989 unter der Stabführung von James Levine hören zu können. Was für ein Jubel für die Sängerin schon beim Auftritt! Dynamisch quicker, ekstatischer wie endzeitlich morbider als die Studioaufnahme bildet dieser auch aufnahmetechnisch formidable Mitschnitt die unerwartet positive Überraschung der Box. Levine und den Berlinern gebührt musikalisch ebenfalls eine Palme. Das Orchesterzwischenspiel in Nummer drei „Beim Schlafengehen“ (seidig flirrende Streicher!) ist zum Heulen schön. Wagners „Wesendonck Lieder“ mit den Berliner Philharmonikern ebenfalls mit dem Dirigenten James Levine waren dreieinhalb Jahre später programmiert und zeigen uns Jessye Norman ein weiteres Mal auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten.

Was Repertoirewert und die atemendlose Phrasierungskunst der Jessye Norman anlangt, so werden wohl alle Herzen bei CD 3 am höchsten schlagen. Mit dem Boston Symphony Orchestra und einem ihrer Lieblingsdirigenten, dem noblen und stets auf Feinzeichnung bedachten Seiji Ozawa, am Pult, sang Norman im Februar 1994 ein singuläres Programm, den Frauengestalten Berenice, Kleopatra und Phaedra gewidmet.

Wie in den epochalen Joseph Haydn-Opern-Gesamtaufnahmen mit Antal Dorati „Armida“ (Titelrolle, 1978) und „La vera costanza“ (Norman als ‚Rosina‘,1976), beides mit dem Orchestre de chambre de Lausanne beim Label Philips erschienen, erweist sich Jessye Norman auch in Haydns „Scena di Berenice“ als ideale Interpretin zwischen klassischer Klarheit und emotionaler Tiefe. Der ebenmäßig fließende Ton betont die Wahrhaftigkeit der schicksalhaften tragischen Befindlichkeit der ägyptischen Königstochter Berenice angesichts der kolportierten Selbstmordabsichten ihres geliebten Demetrios. Das 1795 im Londoner King’s Theatre auf einen Text von Metastasio (aus dem Stück ‚Antigono‘) geschriebene Werk trifft mit der erschütternden Cavatine „Non partir, bell’idol mio“ und der Arie „Perché. Se tanti siete“ mitten ins Herz des Zuhörers. Haydn at his best!

Noch dramatischer und verzweifelter geht es in des 26-jährigen Hector Berlioz‘ Scène lyrique „La mort de Cléopâtre“ zu. Was Jessye Norman in dieser ‚Didon‘ in „Les Troyens“ schwesterlichen Intensität in weit ausholender opernhafter Geste im dunklen Abschied vom Leben bei dieser Beschwörung der Geister der Pharaonen, sie in deren Gräber aufzunehmen, stimmlich an Entäußerung zu Wege bringt, ist in jeder Sekunde bestürzend und packend. Die abgründigen Gefühle und Zerrissenheit dieser dem Geliebten Mark Anton in den Tod folgenden Frau wurden vokal niemals intensiver inkarniert. Bevor sie sich eine giftige Schlange an die Brust führt, diriliert Cléopâtre in dem Berlioz so eigenen Idiom in schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit, nutzloser Selbstbezichtigung und final schlaffer Schicksalsergebenheit.

Die dritte bemitleidenswerte Frauengestalt aus der Feder, diesmal des Benjamin Britten, ist Phaedra. In diesem für Janet Baker geschriebenen, stark von Henry Purcell inspirierten Werk mit der Opuszahl 93 greift Britten auf das Modell der barocken Kantate zurück. Britten hat „Phaedra“ nach Robert Lowells Übersetzung der berühmten literarischen Vorlage Racines vor seinem Tod 1976 vollendet. Das Schicksal der unerwiderten Liebe zu Hippolytus, Sohn ihres Gatten Theseus mit seiner früheren Frau, die zum Tod beider führt, hat Britten zu einer seiner intensivsten musikpsychologischen Studien bewogen. Jessye Norman ist hier abseits jeglicher Manierismen als kluge und schonungslos die düstere Heldin verkörpernde  Interpretin zu erleben.

Dass diese drei unverzichtbaren Aufnahmen nicht früher erschienen sind, liegt nach den Angaben von Cyrus Meher-Homji, Senior Vice President von Universal Music Australia daran, dass Frau Norman „der Audiomix bei Berlioz missfiel.“ Dieser Makel wurde nun vor der Herausgabe entsprechend korrigiert.

Und die Isolde? Leider muss ich sagen, dass ich sehr gut verstehen kann, aus welchen Gründen Jessye Norman diese Aufnahmen nicht freigegeben hat. 1998 unter dem behäbigen Dirigat von Kurt Masur mit dem Gewandhausorchester Leipzig im Gewandhaus aufgenommen, enttäuschen die veröffentlichten Szenen (Vorspiel, Ausschnitte aus Akt 1 mit Brangäne, Liebesduett Akt 2 und Liebestod) bis auf den Seemann des jungen Ian Bostridge herb. Für Jessye Norman kam die Isolde 1998 zu spät. Neben vielen wissend durchmodellierten Phrasen und einer nach wie vor imponierenden Mittellage sind flackernde, scharfe Höhen und ungewohnte Intonationsprobleme im ersten Akt („Zeig ihm die Beute, die ich ihm biete“) zu verzeichnen. Zwar ist noch immer die unverbrüchliche Intensität („Er sah mir in die Augen“) zu bestaunen, mit der Norman diese Traumpartie angeht, allein die Stimme gibt das an ihr selbst zu messende Optimum nicht mehr her. Isoldes Fluch führt Normans stimmliche Grenzen zur Zeit der Aufnahme erbarmungslos vor. Hanna Schwarz als Brangäne ist schlichtweg eine Fehlbesetzung. Weder vom geforderten Legato noch vom Atem her ist von einer einigermaßen adäquaten Leistung zu berichten. Thomas Moser ist ein braver Tristan, der gefällt, aber nicht vom Hocker haut.

Ich höre mir lieber die fantastischen Aufnahmen des „Liebestods“ der Norman mit Kaus Tennstedt oder Herbert von Karajan als Dirigenten an und träume weiter davon, wie das hätte sein können mit der Isolde….

Inhalt der 3 CD-Box

1.CD (Studio) – Richard Wagner: Tristan und Isolde: Auszüge / mit Hanna Schwarz, Thomas Moser, Ian Bostridge, Gewandhausorchester Leipzig, Kurt Masur

2.CD (Live) – Richard Strauss: Vier letzte Lieder; Richard Wagner: Wesendonck-Lieder, Berliner Philharmoniker, James Levine

3.CD (Live) – Joseph Haydn: Scena di Berenice; Hector Berlioz: Cléopâtre; Benjamin Britten: Phaedra op. 93, Boston Symphony Orchestra, Seiji Ozawa

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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