CD JEAN SIBELIUS: Symphonien Nr. 1-7, Tapiola, drei späte Fragmente – OSLO PHILHARMONIC; DECCA
Der junge finnische Dirigent KLAUS MÄKELÄ mit einem spektakulär klangopulenten Debütalbum
Er sieht dem jungen Otto Klemperer ähnlich, ist groß und elegant. Natürlich ist der neue Shooting Star unter den Dirigenten Klaus Mäkelä kein Pultberserker, sondern ein höflicher Youngster, der weiß, was er seinen Vorgängern verdankt und ihnen Respekt entgegenbringt. Schon als freiberuflicher Cellist hat er die finnische Sibeliustradition bei den Sinfonieorchestern in Helsinki kennengelernt und sich angeeignet.
https://www.youtube.com/watch?v=PMKVpRn2rk0
Der gerade erst 26 Jahre alte Klaus Mäkelä, der erste Dirigenten-Exklusivkünstler bei DECCA nach Riccardo Chailly (d.h. seit 42 Jahren), hat für sein Debüt nichts weniger Anspruchsvolles gewählt und auch wählen dürfen als einen Gesamtzyklus der Symphonien von Jean Sibelius. Das ist wohl ein Unikum und Zeichen eines einzigartigen Vertrauens seitens des Verlags in der Geschichte der Schallplatte, das nicht einmal Solti oder Chailly in diesem Ausmaß vergönnt war.
Mäkelä hat in einer Zeit, in denen es nicht wenigen der auf dem Markt als Spitzeninterpreten gehandelten Dirigenten in ihren +/- Fünfzigern an interpretatorischen Mut und Kanten gebricht, schon jetzt eine eigene künstlerische Handschrift. Der äußerst charismatische Dirigent, in seinen Bewegungen elegant fließend bis zackig flächige Orchesterklänge beschwörend, wird dementsprechend von der Kritik nicht nur gefeiert, sondern bisweilen auch einmal vorsichtig betrachtet. Ein weiteres Markenzeichen würde ich sagen. Das Concertgebouw Orchester soll schon bei ihm angeklopft haben. Derzeit ist er jedenfalls Chefdirigent des Oslo Philharmonic und Direktor des Orchestre de Paris und künstlerischer Leiter des Turku Musikfestivals.
Zu Sibelius hat Mäkelä Persönliches zu sagen. Gemeinsam mit dem Oslo Philharmonic, dessen erster vollständiger Sibelius-Zyklus nun auf 4 CDs vorliegt, hat er die Corona-Pause im Frühling 2021 ausgiebig genutzt, um sich Idiom, Eigenart und die besondere Klangsprache des finnischen Nationalkomponisten ganz anzuverwandeln. „Sibelius‘ lange Bogenformen und seine Art der Motivgestaltung waren völlig neu in der symphonischen Komposition.“ In einem Interview über die Musik von Sibelius vergleicht Mäkelä die Entwicklung von der ersten bis zur siebenten Symphonie von Sibelius in den 25 Jahren ihrer Schaffenszeit von 1900 bis 1924 mit der gewaltigen kompositorischen Entwicklung von Ludwig van Beethoven in dessen Symphonien.
https://www.youtube.com/watch?v=PjuLPEJENaw
Ursprünglich war daran gedacht, die Aufnahmesitzungen an komplette Konzertzyklen anzuschließen. Aufgrund von Corona fanden die Takes aber ohne Publikum statt, mit 1,5 Meter Abstand der Musiker zueinander. Was ein Aufeinander Hören wohl befördert hat, wirft akustisch einen Schatten, als die Musik bei aller Brillanz der Tontechnik wohl dadurch ausgelöst in Teilen etwas pauschal auf Klangpracht und -fülle getrimmt erscheint. Aber dieses Überenergetische und urgewaltig Naturbeschwörende etwa in der Ersten, begeistert mich ähnlich, wie das auch die frühen Aufnahmen von Lorin Maazel mit den Berliner Philharmonikern ab 1957 (z.B.: Beethovens Fünfte) taten. Die komplexen ein wenig an Janacek erinnernden rhythmischen Muster, die heikle Balance zwischen Streichern und Bläsergruppen, Vulkanisch Berstendes und verträumt Introspektives, all das weiß Mäkelä mit eigenen Akzenten zu versehen, in kühles Weiße Nächte-Licht zu tauchen. „Die nördliche Tanne träumt von der Palme des Südens“, klingt bei Mäkelä schmerzlich sehnsuchtsgeladen bis forsch ins Leben stechend.
Die Anleihen, die sich Sibelius harmonisch bei Wagner oder Tchaikovsky holte, zielen bereits auf eine gestische Unverwechselbarkeit. Es gibt analytisch die Motive ausschürfendere Interpretationen, so frei, farbensatt und Universums umarmend habe ich die Erste aber nicht einmal bei Bernstein gehört. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Bernstein hat mit den Wiener Philharmonikern sicherlich behutsamer aufgebaute und dynamisch abschattiertere Bögen gespannt.
Die in Rapallo und Florenz begonnene „Zweite“ geht Mäkelä umsichtiger an. In Sibelius‘ „Sündenbekenntnis der Seele“ mischt sich Privates und Politisches „wie ein niederschmetternder Protest gegen all das Unrecht“ vor dem Hintergrund der russischen Unterdrückung bis zur Unabhängigkeit Finnlands 1917. Sibelius plante, den aus Mozarts Oper „Don Giovanni“ stammenden eisernen Handgriff des Komturs samt Höllenfahrt zu imitieren. Im langsamen Satz werden die tödlichen Schritte im Pizzicato der Celli lautmalerisch abgebildet. Sibelius hatte1900 seine zweijährige Tochter Kirsti verloren. An das mystische Waldweben und das Dionysische-Grillen Karajans in seiner fabulösen Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra 1960 schließt Mäkelä nicht an. Seine Lesart ist kraftvoll wie formal abstrakter, vielleicht richtet Mäkelä das Hauptaugenmerk mehr auf das Zahnrädergewusel der Partitur und die romantische Zerrissenheit als auf klassische Stringenz. Wenn ein Vergleich gestattet ist, dann fällt mir die Vulkanlandschaft im Massif Central Frankreichs rund um Clermont Ferrand ein. Mäkelä besteigt mit dem Oslo Philharmonic nicht einen stets aufwärts ragenden Hang, sondern sieht in der Morphologie der Musik viele mittlere pyramidale Erhebungen gleichzeitig, die er mit seinem Orchester mal sportlich, mal bedächtig nimmt. In der „Dritten“ wählt er etwa langsamere Tempi als Maazel mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra.
In kreisenden Betrachtungen wie ein tief in die Landschaft gerichtetes Fernglas vollzieht sich auch die „Vierte“, 1909 bis 1911 geschrieben. Hatte Sibelius eine Reise in den Tod im Sinn, wie Colin Davis es empfand? Vom Leben oder Sterben handelt ja fast alle große symphonische Musik. Mäkelä legt Wert auf die vielen kleinen Zellen und damit seelischen Dispositionen, die in der raffinierten Instrumentierung zum Ausdruck kommen. Mäkelä lässt das zunehmend avantgardistische Echo von Sibelius‘ klanglicher Weltsicht in plötzlichen Umschwüngen und konkreten Farben gegen unsichtbare Wände prallen.
Die „Fünfte“, von Andrew Mellor als Widerhall auf die europäische Moderne identifiziert, die „Sechste“ wiederum als Übung in höchster Ausdrucksreinheit, sind nicht die aufregendsten des Zyklus. Mir fehlt hier die Feinnervigkeit und das unruhige kosmische Schnüffeln, der nach vorne gerichtete, erwartungsvolle Blick. Die Detailarbeit verstellt da manche Schau aufs Ganze.
Die „Siebente“ in C-Dur mit knapp 23 Minuten Spielzeit hält Klaus Mäkelä für vollkommen, für ein Werk, das in seiner Kürze ein ganzes Leben darzustellen scheint. Hier gelingen dem finnischen Musiker berückende harmonische Wendungen und zauberische Übergänge. Die Atmosphäre, ähnlich fluide wie in Richard Strauss‘ Metamorphosen, nutzt Mäkelä für ein irrlichterndes Klanggemälde, den Farbpinsel für pastos wie improvisiert scheinende Würfe launisch schwingend. Auf Mäkeläs Mahlersicht darf man gespannt sein.
Fazit: Ein Paukenschlag Debüt mit unglaublichen Versprechen! Ein junger Hoffnungsträger der Branche liefert ein mehr als beachtliches Gesellenstück ab. Möge er uns fürderhin mit der gleichen Energie, aber mehr Differenzierung und Lust auf leisere Töne beglücken. Auf Mäkeläs Shostakovich dürfen wir also neugierig sein.
Tipp: Vom 21. bis 23. Mai 2022 werden Klaus Mäkelä und die Oslo Philharmonic alle Symphonien von Jean Sibelius zyklisch im Wiener Konzerthaus aufführen. In der Hamburger Elbphilharmonie wird der Zyklus vom 30. Mai bis 2. Juni 2022 wiederholt.
Dr. Ingobert Waltenberger