CD: Jean Sibelius Sinfonien 6 Op. 103 und 7 Op. 104 Der Sturm Op. 109 – Auszüge Göteborg Symphony Orchestra Santtu-Matias Rouvali Alpha-Classics, ALPHA 1130
Sibelius in bewegten Klanglandschaften – Rouvali vollendet seinen Zyklus
Santtu-Matias Rouvali vollendet seinen Sibelius-Zyklus mit den Sinfonien Nr. 6 und 7 sowie mit Auszügen der selten aufgeführten Tondichtung „Der Sturm“. Schon die vorherigen Veröffentlichungen zeigten Rouvali als einen Dirigenten, der sich mit einer ebenso natürlichen wie unkonventionellen Herangehensweise vom analytischen Zugriff vieler anderer Sibelius-Interpreten abhebt. Sein Stil ist von einem stark tonmalerischen Ansatz geprägt, mit weichen Übergängen, atmender Agogik und einer erstaunlichen Plastizität der orchestralen Farben. Die vorliegende Einspielung ist somit nicht nur ein Abschluss des Zyklus, sondern eine Art Summe seiner Sibelius-Sicht – und diese birgt einige bemerkenswerte Details.
Jean Sibelius bemerkte einst, dass seine sechste Sinfonie „reines, kaltes Wasser“ sei im Gegensatz zu den „süßen Getränken“, die in der Musiklandschaft seiner Zeit verbreitet waren. In der Tat entzieht sich dieses Werk der typischen sinfonischen Dramaturgie des 19. Jahrhunderts. Keine monumentalen Steigerungen, keine triumphalen Schlüsse – stattdessen eine schwebende, organische Form, die an eine ausgedehnte Fantasie erinnert. Rouvali nähert sich dieser Sinfonie mit einem feinen Gespür für Textur und Fluss. Der erste Satz beginnt mit einem schimmernden, impressionistischen Streichersatz, den Rouvali in ungewohnter Weichheit leuchten lässt. Statt einer strukturell betonten Phrasierung bevorzugt er einen atmenden Gestus, wodurch die Musik wie ein fließender, nie abrupt unterbrochener Strom wirkt. Die Holzbläser, insbesondere die Flöten, fügen sich mit einer sanften Transparenz in das orchestrale Gewebe ein. Im zweiten Satz, einer Art pastoraler Idylle, setzt Rouvali auf eine ausdrucksvolle, aber nie überpointierte Dynamik. Der Kontrast zwischen den leichten Streicherfiguren und den dezenten, aber markanten Holzbläserfarben ist sorgfältig ausbalanciert. Besonders auffällig ist seine Behandlung der feinen Rubati – er vermeidet alles Artifizielle und lässt die Musik organisch pulsieren. Das folgende Poco vivace zeigt eine gewisse Erdigkeit, die an die skandinavische Volksmusik erinnert, ohne dass Rouvali in plakative Folklore-Anklänge verfällt. Hier entfaltet sich eine motorische Energie, die jedoch nie ins Getriebene umschlägt. Der Schlusssatz hingegen wirkt bei Rouvali nicht wie eine klassische Apotheose, sondern vielmehr wie ein allmähliches Verblassen. Gerade die letzten Takte scheinen sich fast in der Luft aufzulösen – ein Sibelius-Klang, der nicht in scharfen Konturen endet, sondern in die Stille übergeht.
Die siebte Sinfonie ist ein Werk ohne Vergleich in der Musikgeschichte: ein einziger durchkomponierter Satz, in dem thematische Entwicklung, harmonische Progression und Formgestaltung eine Symbiose eingehen, die ihrer Zeit weit voraus war. Rouvali spürt diesem Prozess mit Klarheit nach. Bereits die Einleitung, mit ihrem weit ausschwingenden Streicherklang, ist bei ihm mehr als nur eine atmosphärische Exposition – sie ist der Keim, aus dem sich das gesamte Werk entfaltet. Die feinen Crescendi und Decrescendi wirken hier wie natürliche Atemzüge. Besonders auffällig ist die Gestaltung der berühmten Posaunenakkorde, die als wiederkehrendes Motiv die Sinfonie strukturieren. Rouvali meißelt diese Einwürfe nicht heroisch heraus, sondern integriert sie in die organische Entwicklung der Musik. Sie erscheinen weniger als markante Säulen, sondern eher als sanfte Erinnerungen an einen formalen Rahmen, der sich immer wieder neu definiert. Das zentrale Allegro entfaltet eine mächtige, aber nie übersteuerte Energie. Die Streicherläufe wirken nicht bloß als technische Elemente, sondern als Teil einer fortschreitenden Bewegung, die die Sinfonie zu ihrem unaufhaltsamen Höhepunkt trägt. Besonders gelungen ist Rouvalis Umgang mit dem Orchester-Tutti kurz vor der Coda: Hier entfaltet sich ein Spannungsbogen, der sich nicht eruptiv entlädt, sondern in einen Zustand metaphysischer Erfüllung mündet. Der Schluss der Sinfonie gehört zu den eindrucksvollsten Momenten der gesamten Aufnahme. Die Musik vergeht nicht einfach – sie bleibt in der Luft hängen, als würde sie in eine andere Dimension übertreten.
Die Musik zu „Der Sturm“ gehört zu Sibelius’ weniger gespielten Orchesterwerken, obwohl sie zu seinen klanglich raffiniertesten gehört. Hier experimentiert er mit extremen Registern, schroffen Kontrasten und einer Instrumentation, die fast schon an Filmmusik erinnert. Rouvali nutzt diese Charakteristika voll aus und schafft eine Interpretation, die in ihrer plastischen Wirkung verblüfft. Besonders eindrucksvoll ist seine Gestaltung der Sturmszenen: Während viele Dirigenten hier auf pure orchestrale Wucht setzen, betont Rouvali die unvorhersehbaren, schattenhaften Bewegungen des Sturms. Die Dynamik wirkt weniger brachial als vielmehr schwebend – ein aufziehendes Unwetter, das sich in immer neuen Facetten zeigt. Die lyrischen Passagen hingegen, besonders die Musik um Prospero, sind von einer entrückten Schönheit, die in dieser Klarheit selten zu hören ist. Das Göteborg Symphony Orchestra zeigt hier eine beeindruckende Palette an Klangfarben, von fragiler Transparenz bis hin zu dunkler, drohender Dichte.
Die Produktion besticht durch einen warmen, weiträumigen Klang, der besonders die feinen Nuancen in Rouvalis Interpretation herausarbeitet. Die Streicher haben eine seidige, aber niemals wattierte Sonirtät, das Blech fügt sich wunderbar in den Gesamtklang ein, und die Holzbläser glänzen mit kammermusikalischer Präsenz. Rouvalis Sibelius ist ein polarisierendes Erlebnis abseits der ausgetretenen Pfade. Wo andere Dirigenten klare Strukturen und sinfonische Architektur betonen, setzt er auf einen fließenden, atmenden Klang, der die Musik als organischen Prozess erfahrbar macht. Das Ergebnis ist eine Interpretation, die sich nicht durch eruptive Höhepunkte, sondern durch eine tief empfundene, poetische Geschlossenheit auszeichnet – ein würdiger Abschluss seines Sibelius-Zyklus.
Dirk Schauß im Februar 2025
Jean Sibelius
Sinfonien 6 Op. 103 und 7 Op. 104
Der Sturm Op. 109 – Auszüge
Göteborg Symphony Orchestra
Santtu-Matias Rouvali
Alpha-Classics, ALPHA 1130