CD JEAN-PHILIPPE RAMEAU: LES BORÉADES – Finale Gesamteinspielung im Rahmen von Rameau Opera Omnia; Erato
„Ich kenne Leute, denen eine Oper von Herrn Rameau den Rat von Ärzten eingebracht hat; sie gingen schwer krank hinein und kamen genesen wieder heraus.“ Pierre Louis d’Aquin de Château -Lyon, 1753
Rameaus 250. Todestag liegt zwar schon über zehn Jahre zurück (12. September 2014), ist aber nicht ohne Bedeutung für das Entstehen der vorliegenden Aufnahme. Damals wurde vom Centre de musique Baroque de Versailles in Zusammenarbeit mit der Société Jean-Philippe Rameau ein ambitioniertes Editionsprojekt gestartet. Unter der kundigen Leitung von Sylvie Bouissou entstand eine Gesamtausgabe der Werke des letzten und für mich persönlich größten Komponisten des französischen Barocks. Benoît Dratwicki: „Zum einen sollten sämtliche bisher unveröffentlichten späten Opern des Komponisten sowie diverse alternative Fassungen, die Rameau für spätere Aufführungen komponiert hatte, die es aber weder im 20. noch im 21. Jahrhundert auf den Spielplan geschafft hatten, aufgeführt und eingespielt werden; zum anderen wollten wir die Interpretationspraktiken hinterfragen und mit Hilfe aktueller musikwissenschaftlicher Forschungsergebnisse neue, historisch fundierte Interpretationen einiger der bekanntesten Werke vorlegen.“
So macht sich auch diese neue Publikation von Rameaus vielleicht aufregendster unter seinen späten Opern „Les Boréades“ nach einem Louis de Cahusac zugeschriebenen Libretto die neuesten Erkenntnisse zunutze: Im Orchester wird in den Tänzen kein Cembalo verwendet, in der Continuogruppe dagegen ein Kontrabass eingesetzt. Statt Klarinetten erklingen basierend auf einer handschriftlichen Notiz Rameaus Oboen. Bei der Besetzung der Rollen versuchte man, der überlieferten Authentizität der vorgesehenen Sängerinnen und Sängern und deren jeweiligem Stimmtypus so gut wie möglich gerecht zu werden. Vokale Verzierungen stehen in den Diensten der Charakterisierung der Rollen, Atmung, Phrasierung und Tempi folgen der genauen Exegese des in der Bibliothèque nationale de France vorhandenen historischen Materials.
Spannungsreich wie die Musik ist die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte dieser in seiner ersten Fassung 1759 fertig gestellten tragédie en musique en cinq actes. Da die Mittel für Ausgaben des Königs der Kategorie „Menus-Plaisirs“ aufgrund des teuren Siebenjährigen Krieges limitiert waren, schienen die königlichen Feierlichkeiten 1763 als dem Jahr des Friedensschlusses ein geeigneter Anlass, die Uraufführung zu betreiben. Weder der Brand des Theaters der Académie Royale noch Streiks oder musikalisch abenteuerliche Anforderungen konnten bewirken, was letztlich einer scharfen Zensur gelang: Gegen den in der Oper zum Ausdruck kommenden allzu libertären Freiheitsbegriff und moralischer Attitüden, die mit denjenigen der Monarchie alles andere als im Einklang standen, half nur ein Mittel, um die „umstürzlerischen“ Ideen der Gleichheit als auch einer sich selbst entgegen aller Staatsraison in Liebesdingen selbst verwirklichenden Frau nicht zeigen zu müssen: deren Verbot. Der Tod Rameaus 1764 besiegelte endgültig das Vergessen dieser wunderbaren, aber auch künstlerisch angefeindeten Oper (Stichwort: Italienische Einflüsse).
So kam es, dass die eigentlichen vollständigen Uraufführungen erst im 20. Jahrhundert stattfanden: Konzertant am 14. April 1975 in der Queen Elizabeth Hall in London, dirigiert von John Eliot Gardiner, szenisch am 21. Juli 1982 im Théâtre de l’Archevêché anlässlich des Festivals d’Aix-en-Provence, von der auch eine bei Erato erschienene Analog-Aufnahme mit den English Baroque Soloists ebenfalls unter Gardiner existiert. Mein persönliches Schlüsselerlebnis von „Les Boréades“ verdanke ich Sir Simon Rattle, der die Oper in Salzburg im Mai 1999 vorstellte.
Was der damals fast 80-jährige Rameau (wie Bruckner ein ausgesprochener kompositorischer Spätzünder) in dieser, seiner letzten tragédie an rhythmischer Akkuratesse, melodischer Kraft, thematisch ausgefeilten Verflechtungen, gesamtmosaikisch überlegtem Ineinandergreifen im dramaturgischen Einsatz von petis airs, Rezitativen, Divertissements und Chören sowie raffinierter Instrumentierung (Streicher, Hörner, Flöten) aufbot, kann nur als das summum seines schöpferischen Lebens bezeichnet werden. Elemente aus der Mythologie, Anspielungen auf freimaurerische Zeremonien, das Eingreifen höherer Mächte und entfesselte Naturgewalten mischen sich zu einer dramatisch kurzweiligen Liebesstory mit happy end, die ihre kongeniale Entsprechung in der komplexen Partitur Rameaus findet.
Die vorliegende Einspielung wartet mit einer Besetzung auf, die man trotz der sehr guten Sängerriege in der jüngsten Aufnahme unter Václac Luks/Château de Versailles Spectacles (in beiden kommt Benedikt Kristjánsson als Calisis zum Einsatz) für die beste aller möglichen „Welten“ halten kann. Vor allem die lyrische Sopranistin Sabine Devieilhe als von drei Männern umbuhlte, jedoch widerspenstige Alphise, Königin von Baktrien, und der heldische haute contre Reinould van Mechelen als ihr geliebter Abaris, als dessen Vater im fünften Akt sich Apoll selbst erweist, vereinen in höchstem Maße Stilsicherheit, rollendeckend charaktervollen Ausdruck, dramatischen Impetus und exquisite Stimmschönheit. Zudem lassen der Bariton Thomas Dolié als gestreng brutaler Borée, Alphises machtpolitische Freier Philippe Estèphe als Borilée, Benedikt Kristjánsson als Calisis, der in französischer Vokalmusik vielbeschäftigte Tassis Christoyannis (Adamas, Apollon) und Gwendoline Blondeel (Sémire, Nymphe, l’Amour, Polymnie) keine Wünsche in Sachen barocker Kunstfertigkeit und artistischer Vokalornamentik offen.
Der in (französischer) Barockmusik höchst erfahrene Dirigent György Vashegyi, der homogene Purcell Chor, das artikulatorisch punktgenaue, atmosphärisch kontrastierend wandelbare sowie ausgesprochen spielfreudige Orfeo Orchestra spannen aller Episodik der musikalischen Erzählung zum Trotz einen großen Bogen über die fünf Akte hinweg. Die frühe Freiheits- und Emanzipationsgeschichte erklingt in musikantischem Furor wie aus einem Guss. Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger