CD JEAN-PHILIPPE RAMEAU „LES BORÉADES“ – Collegium 1704, Václav Luks; Chateau de Versailles Spectacles
Es war 1999 in Salzburg, als ich zum ersten Mal „Les Boréades“ von Rameau szenisch erlebt habe. Damals dirigierte Sir Simon Rattle das Orchestra of the Age of Enlightenment: Das hat eingeschlagen wie ein Blitz: Liebe auf den ersten Ton. Seither habe ich das gesamte Schaffen dieses großartigen Komponisten kennengelernt, besonders hat mich eine Aufführung von „Platée“ an der Opéra National de Paris (Palais Garnier) in der vor Humor sprühenden Inszenierung von Laurent Pelly fasziniert.
Was die Dirigenten betrifft, so scheinen es bislang die frankophilen Briten gewesen zu sein, die das exklusive Recht der Interpretation von „Les Boréades“ auf Bühnen und Tonträger für sich in Anspruch nehmen konnten. 1982 spielte Sir Eliot Gardiner mit den English Baroque Soloists das Werk für Erato ein, 2003 folgte eine DVD mit einem Mitschnitt aus Paris. Das Originalklangensemble ,Les Arts Florissants‘ unter dem in Frankreich lebenden Briten William Christie stand damals im Zentrum der musikalischen Verantwortung.
Der Altersgeniestreich „Les Boréades“, bestimmt für die königlichen Feierlichkeiten aus Anlass des Endes des Siebenjährigen Krieges, bildet auch den letzten Akt im Leben des damals schon greisen Komponisten ab. Aufgeführt wurde die prächtige Oper zu Rameaus Lebzeiten nie. Am 12.9. 1764 starb der begnadete Cembalist, Komponist und Musiktheoretiker an Faulfieber begleitet von Skorbut. Die laufenden Proben zu “Les Boréades” wurden unterbrochen, die Eröffnung der Herbstsaison wurde statt dessen mit Campras „Tancrède“ gefeiert. Uraufgeführt wurde die Oper erst 1974 konzertant in London und 1982 szenisch in Aix-en Provence, wie das noch heute in der grandiosen und bislang unübertroffenen Aufnahme von Gardiner, dem beide Meilensteine der Aufführungsgeschichte zu verdanken sind, nachgehört werden kann.
Unsere Zeit liebt die Saurier. Als solchen könnte theoretisch auch „Les Boréades“ unter all den gleichzeitig aus der Taufe gehobenen Werken von Gluck oder Haydn betrachtet werden. Tja, wenn da nicht die absolute Modernität seiner musikalischen Mittel wäre, in die Rameau diese royale, optisch wie akustisch opulent gedachte Unterhaltung als Mischung aus Tanz, Gesang, Spiel und sensationeller Bühnentechnik getaucht hat. Da gibt es ein Quintett von Klarinetten, Hörner und Fagotten (die überhaupt prominent zu Gehör kommen), zwei Soloviolinen, die mit den Flöten gegen den Rest der Streicher ankämpfen und viele andere klangliche Neuerungen. Gardiner benannte zwei Bespiele für die betörende Wirkung der Musik: “Das kurze wollüstige Liebesduett im 5. Akt, das sicher den Beifall von Debussy gefunden hätte und vor allem das Entrée der Polymnie im 4. Akt, das vielleicht das schmachtendste und zutiefst sinnliche Orchesterstück ist, das aus dem gesamten Barockzeitalter hervorgegangen ist.” Auch Anlass für Bühnenzauber gibt es in der Oper genug: Das Sausen und Brausen der Winde, das Wüten und Wirbeln der entfesselten Natur gegen die Helden der Oper sowie das Herabschweben von L‘Amour und Apollon.
Nicht standesgemäße Hochzeiten mit großem öffentlichen Wirbel, wenn einer aus Liebe auf den Hof pfeift, gibt es nicht nur im aktuellen englischen Königshaus. Auch das Libretto hält ein solches, damals durchaus revolutionäres Sujet bereit: Alphise, Königin von Baktrien liebt Abaris, den Gehilfen des Priesters von Apollon. Diese Liebe ist so umwerfend, dass die ‚Queen‘ bereit ist, alle Gesellschaftsunterschiede zu ignorieren und die strengen gesellschaftlichen Konventionen über Bord zu werfen. Alphise verzichtet sogar auf den Thron, um sich ganz der Leidenschaft hingeben zu können. Manche mutmaßen, dass vielleicht dieses dem freimaurerischen Gedankengut nachhängende Libretto ursächlich dafür war, dass die Oper schlussendlich nicht gespielt wurde. Es könnte aber auch banalererweise so gewesen sein, dass die technischen Schwierigkeiten der Partitur die damaligen Orchester einfach maßlos überfordert haben.
Nun legt das Label Chateau de Versailles Spectacles eine überfällige Neuaufnahme mit dem Prager Barockorchester Collegium 1704 unter dem tschechischen Dirigenten Václav Luks vor. Die Einspielung zur großen Tragédie in fünf Akten entstand im Jänner 2020 in der Opéra Royal de Versailles.
Brillant, zupackend, dramatisch auftrumpfend und schwungvoll sind die Worte, die mir zu dieser Aufnahme als erstes einfallen. Luks treibt den dichten musikalischen Fluss unerbittlich voran. Bei allem Respekt für die künstlerische Leistung gibt es jedoch auch einen gewissen Überdruck, eine markige Wucht in den Akzenten, einen rauhen Ton der Bläser und eine nicht sonderlich sensitive Temporegie zu konstatieren. Ich vermisse gewisse feine Zwischentöne, das Auskosten und ,mikroskopische‘ Ornamentieren instrumentaler Details, das dynamische Feinabschattieren in den vielen kleinen musikalische Zellen. Rameau schuf ein höchst kunstvolles, in allen Farben und Stimmungen schillerndes musikalisches Mosaik aus kleinen instrumentalen Sätzen, petits airs, Chören und Rezitativen. Diese enorme Vielfalt samt ihren unendlichen ironischen Brechungen, bizarren Klangtürmen, Vitalität und Witz in der Interpretation adäquat abzubilden, ist die Grundvoraussetzung, um in die Seele dieser Musik tauchen zu können. Das findet jedoch trotz allem orchestralen Glanz und glühender Intensität der Wiedergabe aus meiner Sicht nur unzureichend statt. Der Chor des Collegium 1704 hingegen ist uneingeschränkt für die immense Kraft, die beeindruckende Musikalität und den ‚schönen Ton’ zu loben.
Die Sängerriege kann nicht anders als stolz bezeichnet werden. Im Falle des jungen isländischen Tenors Benedikt Kristjánsson (Calisis) erleben wir sogar eine stupend bravouröse und gleichzeitig ausgesprochen herzergreifende Interpretation. Von dieser exquisiten Stimme mit schönster Vox mixte in den oberen Registern kann ich nicht genug haben. Auch Mathias Vidal (Abaris) beherrscht diese Art des barocken französischen Kunstgesangs für Tenöre aus dem Effeff. Dann ist sofort Caroline Weynants als Sémire zu nennen. Ihr runder, markant timbrierter Sopran kann sich dramatisch in höchste Höhen aufschwingen und zugleich gestochen scharfe Verzierungen stanzen. Ihre große Szene im ersten Akt „Un horizon serein“ gehört sicher zu den Höhepunkten der Aufnahme. Die Belgierin Deborah Cachet als Alphise erfreut mit einer dunklen charaktervollen Mittellage und einer hohen Ausdrucksintensität. Benoît Arnould (Adamas) Bariton ist vergleichsweise granulierter, raubeiniger. Auch sonst sind frische Stimmen am Werk, die allesamt mit Glut und Eifer bei der Sache sind: Nicolas Brooymans als Borée, Lukas Zeman als Apollon, Helena Hozovà als Amor, Paula Radostová als Polymnie, Tomáš Šelc als Borilee und Anna Zawisa sowie Tereza Malickayová als erste und zweite Nymphe.
Fazit: Eine wichtige und vital musizierte Operngesamtaufnahme, die stilistisch mit dem Gardiner-Album aus 1982 nicht mithalten kann. Dafür ist eine saft- und klangvolle Sangesgruppe am Werk, die jeden Melomanen mit französisch barocker Ader glücklich machen wird.
Dr. Ingobert Waltenberger