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CD JEAN-BAPTISTE LULLY: ATYS – Tragédie en un prologue et cinq actes sur un livret de Philippe Quinault; Château de Versailles Spectacles

05.02.2024 | cd

CD JEAN-BAPTISTE LULLY: ATYS – Tragédie en un prologue et cinq actes sur un livret de Philippe Quinault; Château de Versailles Spectacles

Tolle Gesamteinspielung vom Juli 2023 aus der Opéra Royal du Château de Versailles

„Der formelle Schleier der Kunst Ludwig XIV. reißt auf, um Platz für ein menschliches und erschütterndes Drama zu schaffen.“ Christophe Rousset

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Die 1676 an der Académie Royale de Musique uraufgeführte „Oper des Königs“, wie „Atys“ als Verneigung vor dem begeisterten Zuspruch des mächtigen französischen Monarchen genannt wurde, musste bis 1986/1987 in grauen Archiven ausharren. Genau zu dieser Zeit begab es sich, dass William Christie und Les Arts Florissants mit ihren „Atys“-Premieren in Prato im Rahmen des Maggio musicale di Firenze im Dezember 1986 und an der Opéra de Paris 1987 für eine fulminante Auferstehung dieser Opera lyrique um die unglückliche Liebe der Göttin Cybele zum Jüngling Atys sorgten. 1987, dem Jahr des Gedenkens an den 300. Todestag von Lully, wurde die Produktion von Jean-Marie Villégier (Choreografie Francine Lancelot) zudem am Théâtre de Caen, an der Oper von Montpellier, auf Tournee in Brasilien sowie beim Innsbrucker Festival für Alte Musik gezeigt.

In Prato und in Paris war damals schon Christophe Rousset als Cembalist mit von der Partie. Die Pionierleistungen des britischen Dirigenten markierten den Startschuss für eine unglaubliche Renaissance der französischen Barockmusik, Oper im Speziellen, die mit Unterbrechungen bis heute anhält, ja durch unentwegte Forschung und ein breiteres Angebot an stilistisch bestens geschulten und passionierten Musikern sogar noch zugelegt hat. 2019 wurde die CD der Einspielung dieser historischen Aufführung, die Generationen von Alte Musik Interpreten beeinflusst hat, aus Anlass des 40-jährigen Bestehens von Les Arts Florissants wieder aufgelegt.

Dass Christophe Rousset bisher einen Bogen um „Atys“ gemacht hat, liegt genau daran, dass er sich vom übermächtigen Vorbild lösen wollte, um in seinen Interpretationsentscheidungen absolut frei sein zu können. Eben weil es sich in den Achtziger-Jahren um ein Abenteuer gehandelt hat, „das die Barockbewegung, ihre Akteure und ihr Publikum zutiefst geprägt hat.“

Dafür hat sich Christophe Rousset in der Zwischenzeit als Dirigent vieler Bühnenwerke von Lully („Thesée“, „Armide“, „Psyche“, „Acis et Galatée“, „Phaëton“, „Alceste“, „Ballet Royal de la Naissance de Venus“, allesamt auf Tonträgern erhältlich) und anderen Schlüsselwerken der französischen Barockmusik mittlerweile einen veritablen Spitzenruf erarbeitet, der meiner Erfahrung nach immer hält, was er an höchster Qualität einzulösen bestrebt ist.

Im Falle des „Atys“ hat Rousset das Manuskript von Valenciennes, das Libretto der Uraufführung und die posthume Ballard-Ausgabe eingehend studiert und zudem die neuesten Forschungsergebnisse von Musikologen in die Wiedergabe einfließen lassen. Die Befassung mit der Theorie dient aber letztlich immer dem Ziel, „dramatische Spannung, lebendige Gefühle und Menschlichkeit“ zu vermitteln.

Um Liebe und ihre verflixten Ungleichzeitigkeiten samt multiplem letalem Ende geht es in dieser trotz höfischer Konnotation universellen Oper. „Atys“ ist in die Nymphe Sangaride, Tochter des Flusses Sangar, verliebt, die seinen Freund, den phrygischen König Célénus, heiraten soll. Der Feschak Atys wird seinerseits von der Göttin Cybèle begehrt. Die unglückliche Göttin hat keine Ahnung vom Gefühlsleben des Jünglings und ernennt ihn zu ihrem Hohepriester. Nach dem Liebesgeständnis der Göttin ist natürlich Feuer am Dach. Die eifersüchtige Nymphe ist sauer und will nun doch Célénus heiraten. Atys, der sich für Sangaride und damit für seine wahren Gefühle entscheidet, und daher gegen Göttin und Freund rittert, entführt seine Nymphe rechtzeitig vor der Trauung. Als in ihrem Stolz zutiefst verletzte Frau überlässt Cybèle ihre Rache der Furie Alecton. Die manipuliert Atys‘ Verstand mit der Folge, dass er Sangaride als vermeintliches Monster tötet. Wieder bei Sinnen, erdolcht sich Atys gefolgt von einem herzzerreißenden Klagegesang. Cybèle verwandelt den Burschen in eine Pinie. Die Trauerklage in Form eines ‚Divertissements‘ prägt den Schluss dieser Tragédie lyrique. Vier Nymphen, acht Wassergötter und vierzehn Korybanten singen, acht Korybanten, drei Waldgötter und drei Nymphen tanzen. Vorhang.

Die Musik besteht aus den für dieses Genre üblichem Mix aus Rezitativen, Airs, Chören und Divertissements (Gavotte, Menuett, Ritournelle bieten ausreichend Platz für Tanzeinlagen), auf humorig-groteske Nebenfiguren wird komplett verzichtet.

Christophe Rousset treibt die Handlung in einem wirbelnden Strudel stetig bis zum bitteren Ende voran, die in der Musik enthaltenen lautmalerischen Effekte wie Echo, Refrains, Naturschilderungen und von Albträumen durchsetzte Schlaferzählung genüsslich auskostend. Dieser Lully-Spezialist ersten Ranges vermag uns die alten Klänge so natürlich, mit nobler Emphase und nachvollziehbaren Leidenschaftskonstellationen quasi unter Starkstrom – weil es solche emotionalen Labyrinthe auch heute noch gibt – so zu vermitteln, dass man sich als Hörer unmittelbar in das packende Geschehen hineinversetzen kann. Orchester und der Choeur de Chambre de Namur (Einstudierung: Thibault Lenaerts) haben einen unheimlichen Perfektionsgrad erreicht, ohne etwas von der packenden dramatischen Wirkung einzubüßen.  

Die illustre Sängerschar mit dem vorzüglichen Reinoud Van Mechelen als Titelheld an der Spitze, Marie Lys als Sangaride, Ambroisine Bré als Cybèle, Philippe Estèphe als Célénus, Romain Bockler als Idas, Gwendoline Blondeel als Doris, Iris, Nick Pritchard als Morphée, Antonin Rondepierre als Phantase, sowie Olivier Cesarini, Kieran White und Apolline Rai-Westphal in jeweils mehreren Rollen, beherrschen sowohl die von zahlreichen asymmetrischen Taktwechseln geprägte musikalische Struktur als auch die komplex in Zweier- und Dreierrhythmen gehaltenen, affektdurchtränkten Rezitative.

Fazit: Jetzt gibt es zu den zwei William Christie Aufnahmen (1987 und 2011) eine weitere vorzügliche, diese überdies klanglich optimale dritte, die die volle Aufmerksamkeit des Publikums verdient. Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass sich die französischen Tragédies durch solche Initiativen der Besten immer weiter aus dem Nischendasein emanzipieren. Ein breiteres Spektrum an Aufmerksamkeit hätten sie sich nämlich wirklich verdient, vorausgesetzt, man lässt sich auf diesen schillernd irrlichternden, exotischen Klangkosmos unbefangen ein.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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