CD IGOR STRAVINSKY „Le Sacre du Printemps“, MAURICE RAVEL „Ma mère l’Oye“ für Klavier vierhändig, harmonia mundi
PAVEL KOLESNIKOV & SAMSON TSOY landen einen weiteren pianistischen Volltreffer
„Von vier Berserkerhänden an seine Grenze gebracht, spielt ein einzelnes Klavier mit unvergleichlicher graphischer Präzision. Ein einzelnes Klavier kann gewaltiger klingen als hundert Streicher und Bläser, wenn man es in die Enge treibt wie ein wildes Tier.“ Kolesnikov, Tsoy
Mit diesem Zitat ist viel über die kraftvoll expressive, die „grob kantige Direktheit“ der Sichtweise der beiden Pianisten zu Stravinskys „Frühlingsopfer“ gesagt. Auf dem neuen Album des sibirisch-kasachischen, aktuell in London lebenden Gespanns Kolesnikov/Tsoy ist eine klangkomprimierte, zu berauschend klarer Essenz destillierte Version des vom Komponisten selbst für Klavier vierhändig bearbeiteten notenreichen Klassiker zu erleben.
Die beiden haben sich schon in ihrer Studienzeit als künstlerische Partner gefunden. 2019 riefen sie das Ragged Music Festival “ohne Pomp und Glamour“ ins Leben. Der Grundgedanke besteht darin, Musik, Architektur und bildende Künste mit- und ineinander wirken zu lassen. Da das Londoner Ragged School Museum wegen Renovierung geschlossen ist, hat man sich 2023 kurzerhand für eine „Travelling“ Edition in Amsterdam entschieden.
Das für die Ballets russes von Sergej Diaghilev in Auftrag gegebene, kalt schillernde Orchesterwerk „Le sacre du Printemps“ oder „Die Frühlingsweihe“, Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen, bezieht seine Themen aus Sammlungen osteuropäischer Folklore. Dabei werden herkömmliche Tanzformen bewusst verfremdet. Immerhin gibt der Handlungsrahmen die Selbst-Opferung einer Jungfrau als Versöhnungsgeste dem Frühlingsgott gegenüber zu Protokoll.
Vierhändig für Klavier arrangiert, verwandelt sich das von der Anbetung der Erde hin zu einem Ahnenritual samt Todestanz kulminierende expressive Orchesterstück zu einem in seiner Abstraktheit noch einmal intensivierten Schwarzweißgemälde. Der musikalische Pinsel wird von Pavel Kolesnikov und Samson Tsoy energisch geführt. Kurz angebunden und knapp artikuliert setzt die Einführung zum ersten Teil an. In den ‚Vorboten des Frühlings – Tanz der jungen Mädchen‘ lässt das Duo den rasierklingenschneidenden, repetitiven Rhythmen freien Lauf. Wie 360 Grad Laser streuen die polytonalen Harmonien ihre irrlichternden Endläufe weit in den Raum. Rasant knallend setzen die Klaviervirtuosen die ‚Entführungsspiele‘ in Szene, der ‚Frühlingsreigen‘ steigert sich aus dunkelerdigem Dräuen zu tosender Urgewalt. Beim ‚Spiel der rivalisierenden Stämme‘ gewinnt in der Fassung für Klavier vierhändig ein holzstangenartiges Gerangel Kontur. Den ‚Kuss‘ und den ‚Tanz der Erde‘ lizitieren Kolesnikov/Tsoy aus feinnervigem Weben zu einem spiralförmig sich schraubendem Crescendo hoch.
Im zweiten, dem ‚Opfer‘ gewidmeten Teil geht es mit einem Tastenschwirren und -surren los, werden im ‚Mystischen Reigen der jungen Mädchen‘ die infrage kommenden, potentiell Gottbeschwichtigenden umkreist. Die ‚Verherrlichung der Auserwählten‘ mit den motorischen, chaotisch umherfliegenden Klangfragmenten bis zum gruselig imaginierten Aufmarsch der Vorfahren dienen als Vorgeplänkel für den eigentlichen Opfertanz. Maschinell asymmetrische Rhythmen Herzflimmern gleich, führt das Klavier die Musik in permanenten Ein- und Aufschlägen zu ihrem eigentlichen Kern, einer Apokalypse an heidnischer Brutalität bis zum Tod.
Als Kontrast dazu haben Kolesnikov und Tsoy Maurice Ravels Suite für Klavier vierhändig „Ma mère l’Oye“ („Mutter Gans“) gewählt. Als klangpoetisch verbrämte Märchenreminiszenzen aus der Kindheit ersonnen, erkundet Ravel in der Pavane von „Dornröschen“, im „Kleinen Däumling“, in „Laideronnette, die Kaiserin von den Pagoden“, den „Gesprächen der Schönen und des Biests“ und im „Märchenhaften Garten“ experimentell kleine harmonische Universen. Trotz scheinbarer Einfachheit im Satz, gilt es den Spagat von „Ökonomie und Reichtum“ zu bewältigen oder wie die beiden Pianisten konstatieren: „Ravel verweigert all seine intrikaten pianistischen Zaubereien zugunsten vollständiger Transparenz. Aufgrund ihrer Verknappung ist nun jede Note ein kraftvolles Elixier, eine veritable Explosion von Farbe und Emotion.“
Pavel Kolesnikov und Samson Tsoy demonstrieren nach der gelungenen Franz Schubert – Leonid Desyatnikov Gegenüberstellung auch mit ihrem zweiten gemeinsamen Album für harmonia mundi dramaturgische Neugier, konzeptuelle Kongruenz sowie pianistische Überlegenheit. Besonders nimmt dabei ein, dass der strukturelle Ansatz, ihre antiromantische Nüchternheit bei Stravinsky zu erzählerisch besonders eindrücklichen Hörerlebnissen führt, während ihre verinnerlichte Anschlagskultur Ravels duftige Stimmungsbilder sanft aquarelliert.
Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger