Macht, Verlangen und Tragik: Jules Massenets „Hérodiade“ live aus der Deutschen Oper Berlin“
Mit der Rarität „Hérodiade“ von Jules Massenet wagt sich die Deutsche Oper Berlin an eine opulente Oper der grande opéra und verleiht dem Werk in einer konzertanten Form neuen Glanz. Der Mitschnitt aus mehreren Aufführungen im vergangenen Jahr, veröffentlicht von Naxos, bringt Massenets weniger bekannte Oper einem breiteren Publikum nahe. Mit der musikalischen Führung durch Enrique Mazzola, einem hochkarätigen Ensemble und dem Chor der Deutschen Oper gelingt eine packende Vorstellung dieses Epos über Liebe, Intrigen und religiösen Fanatismus in Jerusalem.
„Hérodiade“ spielt zur Zeit von Johannes dem Täufer und webt das Schicksal von Salomé, ihrer Mutter Hérodiade und des Königs Hérode zu einer ebenso tragischen wie dramatischen Geschichte. Salomé, die in ihrer Jugend ihre Mutter nie kennenlernte, verliebt sich in den prophetischen Jean (Johannes den Täufer), wird von ihm jedoch abgewiesen. Gleichzeitig tobt ein unerbittliches Machtspiel zwischen Hérode, der von Salomé besessen ist, und Hérodiade, die Rache an Jean sucht, weil er sie verachtet. Durch Intrigen und Machtstreben verstrickt sich jeder der Hauptcharaktere in unlösbare Konflikte, die schließlich zum Tod von Jean und der verzweifelten Selbsttötung Salomés führen, nachdem sie ihre Mutter als Rivalin entlarvt hat. Massenets musikalische Umsetzung wechselt meisterhaft zwischen Pathos und Intimität, eingebettet in eine Fülle musikalischer Ausdrucksformen, die Elemente der französischen Oper kunstvoll mit exotischen Einflüssen verwebt.
In der Berliner Aufführung sind die Sängerinnen und Sänger allesamt in Höchstform. Nicole Car als Salomé überzeugt mit einem strahlend klaren, jugendlich anmutenden Sopran, der in den höchsten Lagen an Leichtigkeit gewinnt und auch die dramatischen Momente voller Intensität bewältigt. Ihre Salomé zeigt sich nicht als kokette Verführerin, sondern als empfindsame und verletzliche Seele – eine Interpretation, die den tragischen Kern der Figur betont.
Matthew Polenzani als Jean verleiht dem Propheten eine lyrische Zartheit, die durch seine klangvolle, höhensichere Stimme besticht. Besonders beeindruckt seine französische Diktion, die selbst in dramatischen Passagen klar verständlich bleibt und so die Spiritualität und Überzeugungskraft seiner Figur unterstreicht. Auf der anderen Seite fehlt seiner Stimme der heroische Biss, um diese Rolle vokal wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Clémentine Margaine, als Hérodiade mit warmem Mezzo und dunklen Klangfarben besetzt, zieht deutlich die Aufmerksamkeit auf sich. Sie zeichnet Hérodiade als eine verletzte, rachsüchtige Frau, die in einer ständigen Zerreißprobe zwischen Macht und Muttergefühlen steht.
In der Rolle des Hérode brilliert Étienne Dupuis mit einem wohlklingenden Bariton, der geschmeidig, kontrolliert auch die Höhe erreicht. Seine Interpretation eines Liebenden und zugleich kalkulierenden Herrschers fasziniert durch die geschmeidige Flexibilität seiner Stimmführung und seine exzellente Wortverständlichkeit. Das Nebenrollenensemble verstärkt das hohe Niveau: Kyle Miller als Hohepriester und Dean Murphy als Vitellius setzen prägnante Akzente mit einnehmenden Stimmen. Marko Mimica als Phanuel überzeugt mit einer bassgewaltigen Präsenz und gibt dem königlichen Astrologen die nötige Autorität.
Der Chor der Deutschen Oper Berlin, unter der Leitung von Jeremy Bines, präsentiert sich hier in Hochform. Mit Präzision und großem klanglichen Spektrum bringt der Chor sowohl die kämpferischen als auch die andächtigen Szenen zum Leuchten. Die anspruchsvollen Passagen, in denen der Chor zwischen orientalisch anmutenden Klängen und martialischem Pathos wechselt, gelingen eindrucksvoll und unterstreichen die Vielschichtigkeit des Werkes.
Das Orchester der Deutschen Oper unter Enrique Mazzola begleitet mit einer sensiblen und dynamisch ausgereiften Interpretation. Mazzola versteht es, die klangliche Feinheit und Eleganz der Partitur herauszuarbeiten, ohne dabei an Dramatik und Spannung zu verlieren. Besonders in den feierlichen, mystischen Szenen überzeugt das Orchester mit einem dichten, duftigen Klang, der die unterschiedlichen emotionalen Ebenen von Massenets Musik hervorhebt.
Die Aufnahme von „Hérodiade“ an der Deutschen Oper Berlin stellt einen Glücksfall für Opernliebhaber dar und wird Massenet-Fans begeistern. Mit herausragenden Leistungen der Solisten, einem kraftvoll musizierenden Orchester und einem ausdrucksstarken Chor gelingt eine atmosphärisch dichte, musikalisch fesselnde Interpretation dieses selten gespielten Werkes. „Hérodiade“ besticht durch seine biblische Exotik und bringt ein Meisterwerk der französischen Oper mit Brillanz zurück ins Rampenlicht. Ein eindrucksvoller Abend, der Massenets Klangkosmos auf unvergleichliche Weise zum Leben erweckt und seine zeitlose Ausdruckskraft unter Beweis stellt.
Dirk Schauß, im November 2024
Jules Massenet
Hérodiade
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Enrique Mazzola, musikalische Leitung
Naxos 8.660540-41