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CD HENRY DESMAREST/ ANDRÉ CAMPRA: IPHIGÉNIE EN TAURIDE; Alpha

20.01.2025 | cd

CD HENRY DESMAREST/ ANDRÉ CAMPRA: IPHIGÉNIE EN TAURIDE; Alpha

Noch eine französische Tragédie als musikalisch beglückende Weltersteinspielung

kol

Christoph Willibald Glucks „Iphigenie auf Tauris“ dürfte vielen Melomanen ein Begriff sein. Nicht aber, dass dieser auf Euripides zurückgehende Stoff Ende des 17. Jahrhunderts das Interesse von Henry Desmarest und Pariser Theatermachern erweckte. Die Entstehungsgeschichte dieser Tragédie en un prologue et cinq actes ist einigermaßen gewunden, brauchte es doch zwei Komponisten und Librettisten, bevor sie endgültig in Paris am 6. Mai 1704 in der Académie Royale de musique uraufgeführt werden konnte. Das kam auf Basis von Nachforschungen des Benoit Dratwicki, Direktor des Centre de Musique baroque de Versailles, so:

Desmarest und sein Librettist Joseph-Francois Duché de Vancy laborierten an der Oper ab 1695 einige Jahre mit mehr oder weniger Eifer dahin, bis die Heirat des Musikers mit einer jungen Frau ohne vorhergehende Einwilligung des Vaters, Desmarest von Ludwig XIV. dekretiert, ins Ausland zwang. Die unvollendete Partitur gelangte über einen Freund in die Hände von André Campra. Da die künstlerisch in jenen Jahren lahmende Académie Royale de Musique unbedingt einen Erfolg brauchte, war Campra der Mann der Stunde, die Oper zu finalisieren. Dies tat Campra unter Mithilfe von Antoine Danchet, der fehlende Textteile ergänzte und den Änderungsbedarf des neuen Tonsetzers bediente. „Desmarest hatte nicht nur die letzten Szenen nicht vollendet, sondern auch einige Passagen der ersten Akte in Skizzenform zurückgelassen. So verdankt man der Feder Campras zentrale Szenen wie etwa Iphigénies Halluzinationen im ersten Akt und die beiden Szenen zwischen Orest und seiner Schwester im vierten und fünften Akt. Der Prolog einschließlich der Ouvertüre stammt ebenfalls vollständig von Campra“ Dratwicki. Dass die künstlerische Einheit gewahrt blieb, ist Campra zu verdanken, der „geschickt in den Stil von Desmarest schlüpfte.“ Die Iphigénie von Desmarest/Campra hielt sich vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beachtlich gut auf den Spielplänen Frankreichs.

Erfolg und Misserfolg der Oper standen/stehen und fielen/fallen mit der Besetzung der Hauptrolle. Erst als Françoise Journet 1711 als Iphigénie angesetzt war, erntete das musikalisch aufregend schöne Opus mit seinen einfallsreichen Ouvertüren, Préludes, Arien, Duetten, höfischen Tänzen (Sarabande, Menuets, Loure, Marches, Chaconne) die Aufmerksamkeit und Popularität, die es verdiente. Das musikalische Substrat der Tragédie folgt den Gepflogenheiten der Zeit – d.h. im Wesentlichen dem Vorbild Lullys – mit affektvollen, textaffirmativen Rezitativen, orchestergestützten, theatralisch wirksamen Accompagnati, kurzen, oftmals virtuosen Airs; dazwischen viel Instrumentales (Ballett) und Chöre.

Um ein möglichst authentisches Hörerlebnis zu erzielen, wurde bei der Aufnahme großes Augenmerk auf die Platzierung der Musiker, die Zusammensetzung der Continuogruppe, das mehrstimmige Spiel der Gamben sowie die penible Beachtung der Notierung der Verzierungen gelegt. Die Grundzüge der Handlung dürften Interessierten der griechischen Mythologie bekannt sein. Die Oper endet jedoch mit der Befreiung der Iphigénie und des Orest durch die Göttin Diana und mit dem Tod des Skythenkönigs Thoas.

Die Besetzung der Hauptrollen mit der noch immer unübertrefflichen Tragödin Véronique Gens, des Pylade mit dem besten Haute Contre unserer Tage, Reinoud Van Mechelen, des Orest mit dem markanten Bass des Thomas Dolié, des Thoas mit dem französischen Bariton David Witzcak, auch er wie die beiden Vorgenannten zu unser aller Wonne ein vielbeschäftigter Künstler in den Aufnahmen der Lables Château de Versailles Spectacles und Alpha. Was dieses Spitzenkleeblatt französischer Gesangskunst an Raffinesse, Ausdruck, gelebter Stilkunde und an Wohlklang bietet, ist nicht zu egalisieren. In weiteren Rollen sind Olivia Doray (Électre), Floriane Hasler (Diane), Tomislav Lavoie (L’Ordonnateur, L’Océan), Antonin Rondepierre (habitant de Délos, Triton, Le Grand Sacrificateur), Jehanne Amzal (Isménide,) und Marine Lafdal-Franc zu hören.

Hervé Niquet und der auf barocke Entdeckungen spezialisierte Chor und das Orchester von Le Concert Spirituel mischen für diese wiederentdeckte Tragédie die spezifischen Klangfarben des französischen Hochbarock zu einem packenden, das Akademische der dahinter liegenden Forschungen weit hinter sich lassenden, quicken Hörerlebnis. Die dramatisch-dunkle Glut des antiken Sujets ist dank der engagierten Solistenriege in jedem Moment präsent.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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