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CD HEINRICH SCHÜTZ „ITALIENISCHE MADRIGALE“ – Les Arts Florissants und Paul Agnew; harmonia mundi

14.10.2023 | cd

CD HEINRICH SCHÜTZ „ITALIENISCHE MADRIGALE“ – Les Arts Florissants und Paul Agnew; harmonia mundi

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„Sie haben mir den Anstoß gegeben, nach Italien zu gehen und mich in jene Woge zu stürzen, die ganz Italien mit höherem Rauschen als jede andere dahin reißt, so dass sie der Harmonie des Himmels ähnelt – ich meine den hochberühmten Gabrieli, der mich zum Teilhaber des Goldes seiner Künste gemacht hat.“ Heinrich Schütz in seinem an seinen Gönner Landgraf Moritz von Hessen gerichteten Vorwort zu den „Neunzehn italienischen Madrigalen“ von 1611

Ein sangesbegabter Thüringer Junge mit Engelsstimme namens Heinrich Schütz verdankte seine musikalische Karriere dem kunst-, wissenschafts- und junge Talente förderungsaffinen Landgraf Moritz von Hessen. Der Landgraf hatte die Stimme des jungen Schütz erstmals auf der Durchreise nach Dresden im Gasthof Zum Goldenen Ring in Weißenfels gehört. Daraufhin lud er den erst Zwölfjährigen als Kapellsänger nach Kassel ein.

Als der Stimmbruch kam, durfte Heinrich dennoch bleiben und das Collegium Mauritianum besuchen. Und wie das in so vielen Familien auch heute noch vorkommt, wird es auch bei den Schützens so gewesen sein, dass die Eltern auf den Hochbegabten einwirkten, zuerst einmal einen „anständigen“ Beruf zu erlernen. Heinrich schrieb sich also in die Matrikel der Juridischen Fakultät in Marburg ein. Rechtsgelehrter werden zu wollen, war und ist ja auch heute noch keine allzu schlechte Wahl

Und dann kam das Wunder: Landgraf Moritz ermöglichte es dem unentschiedenen Studenten nach nur einem Studienjahr, mit 200 Talern in der Tasche, nach Venedig zu gehen, um daselbst bei Giovanni Gabrieli den Geheimnissen der venezianischen Mehrchörigkeit (nach der dem Markusdom folgenden Architektur oftmals mit vier auf den Emporen verteilten Cori Spezzati) und dem Kompositionshandwerk generell auf den Grund zu gehen. Zwei Jahre waren angedacht, vier sollten es werden. Heinrich wurde der Lieblingsschüler des alten Meisters, der noch vor der Rückkehr des Eleven nach Deutschland starb. Als Abschluss der italienischen Studien und in Dankbarkeit Landgraf Moritz gewidmet entstand das sogenannte „Il primo libro de Madrigali di Henrico Sagittario“, eine Sammlung von 18 fünfstimmigen Madrigalen samt einem achtstimmigen doppelchörigen Widmungsmadrigal an Moritz.

Weit mehr als ein bloßer Studentenversuch, hatte Schütz mit diesem exquisiten polyphonen Zyklus den vielversprechenden Start in eine große Musikerlaufbahn gesetzt. Musik und das vertonte Wort wollten sich gegenseitig atmosphärisch durchdringen, ein übergeordneter Bogen darüber aber gewahrt sein. Was nicht selbstverständlich war, immerhin sollte jedem Textgedanken ein eigener musikalischer Einfall zugeordnet sein, was zu motivischer Unruhe in einigen Stücken führt.

Die Texte entnahm Schütz dem Hirtenstück „Il Pastor fido“ von Battista Guarini, den so bezeichneten „Madrigali e Canzoni“ von Giambattista Marino, die Worte zu Nr. 6 einem Gedicht von Alessandro Aligieri. Der Text zu Nr. 10 stammt von einem anonymen Dichter. Es entstand eine umfassende musikalische Darstellung elementarer menschlicher Erfahrungen von Liebe samt dem von ihr ausgelösten Kummer, Tod und die Sehnsucht danach, Leidenschaft und der aus ihr folgenden Schmerz.

Was die Interpretation betrifft, so „schreien“ diese italienischen Madrigale geradezu nach Überartikulation, manieriertem Überschwang, kontrastreicher Deklamation und der Lust an sich reibenden Harmonien. Der französische Tenor Paul Agnew und das Vokalensemble „Les Arts Florissants“ (Miriam Allan, Hannah Morrison Sopran, Mathilde Ortscheidt, Nicolas Kuntzelmann Alt, Sean Clayton Tenor, Anicet Castel, Jonathan Sells Bass) legen gerade im Hinblick auf diese Desiderata eine extrem textbezogene Einspielung bei beispielhafter Intonation vor. 

Das künstlerische Ziel darf sich gerade bei dieser Musik nicht auf bloßen Schöngesang und auf ein möglichst harmonisches Miteinander beschränken. Es gilt vielmehr, diesen komplex-polyphonen Gesängen mit einem den drastischen Emotionen und Stimmungswechseln entsprechenden, der Lyrik zugewandten Ausdruck aufzuladen. Ein eindringliches Beispiel liefert das Madrigal „Ride la primavera“. Da geht es um eine Art „Renaissance-Turandot“: Der schönen Nymphe Chloris ist offenbar so ganz und gar nicht danach, auf ein frühlingshaftes Liebesschmachten zu hören. Also werden die Schwalbe, das zarte Gras und die Blumen besungen, um im nächsten Moment auf den Winter im Herzen der grausamen Angebeteten umzuschwenken.

Mir liegt diese Musik besonders am Herzen, weil ich selbst ab dem 14. Lebensjahr in einem kleinen a cappella Renaissance-Vokalensemble zu singen gelernt habe und Schütz, di Lassus, Monteverdi, Ockeghem & Co. bald zu persönlichen Hausheiligen geworden waren. Die Interpretation des Albums scheint mir besonders gelungen. Neben den bereits erwähnten Vorzügen sind auf dem neuen Album lauter charaktervoll timbrierte Solistinnen und Solisten am Werk, die aufeinander eingespielt sind und sich die Worte wie flotte Bälle zuwerfen. Hie und da dominieren die Sopranistinnen, auch Paul Agnew drückt den Aufnahmen hörbar seinen Stempel auf.  Welch faszinierende musikalische Zeitreise ins Venedig des frühen 17. Jahrhunderts!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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