CD HECTOR BERLIOZ: SYMPHONIE FANTASTIQUE, MAURICE RAVEL: LA VALSE – KLAUS MÄKELÄ dirigiert das Orchestre de Paris; DECCA
Irre gut!
Nach zwei vor allem Igor Stravinsky gewidmeten Alben mit dem Orchestre de Paris, stürzt sich der finnische Chefdirigent Klaus Mäkelä Hals über Kopf in französisches Kernrepertoire. Und das mit einem Maximum an dramaturgischer Stringenz, pastosem Farbenspiel und aufwühlend grotesker Zerrspiegelei.
Die Beschreibung der anfänglichen Gefühle von Hector Berlioz zur Shakespeare-Schauspielerin Harriet Smithson des Bruno Messina, Direktor des Festival Berlioz, trifft auch auf die gegenständliche Aufnahme zu: manisch intensiv und leidenschaftlich infernalisch. Nur sechs Jahre nach Beethovens „Neunter“ entstanden, scheint ein Jahrhundert zwischen den beiden Kompositionen zu liegen. Verabschiedet sich Beethoven symphonisch mit seiner „Neunten“ in einen utopisch hypertrophen Kosmos einer imaginierten Brüderlichkeit voller gottbeschwörendem Pathos, so fügte der 27-jährige Berlioz in seiner Symphonie fantastique, Op. 14 wie kein anderer Tonsetzer vor oder nach ihm die Quintessenz der zweifelnden Zerrissenheit der Faustischen Seele und somit der conditio humana des modernen Menschen zu erzählerisch tranceeuphorischer bis rauschgetränkter Tonölmalerei.
Jeder der fünf Sätze von Berlioz‘ Symphonie fantastique folgt einem literarischen Programm, das die Titel „Rêveries – Passions, un bal, Scène aux champs, Marché au supplice sowie Songe d‘une nuit de sabbat“ umfasst. Autobiografisches hat bei der Entstehung dieser Épisode de la vue d’un artiste „im paranoiden Liebeswahn“ eine große Rolle gespielt.
Klaus Mäkelä gelingt es mit seinem von gespenstisch fahl bis ekstatisch aufspielenden Orchestre de Paris atmosphärisch eindringlich das Innovative der Partitur derart unmittelbar erlebbar zu machen, als hörte man dieses musikalische Manifest einer paranoiden Fallstudie zum ersten Mal. Dabei kommen die Effekte von Instrumenten wie Englischhorn, Kornett, Es-Klarinette, Oboe und Harfe in den unzähligen Details ebenso zwingend zur Geltung wie der große filmische Zuschnitt im drame musical.
Klaus Mäkelä zieht die Spannung in der fatalen Geschichte des in seiner Liebe verschmähten Künstlers, der anlässlich dieser Zurückweisung seine eigenen Ängste und Unzulänglichkeiten ins Unermessliche bis zu dem im Opiumrausch imaginierten Mord an der Unerreichbaren eskalieren lässt, an wie einen Schraubstock. Im Gang zum Schafott sowie dem anschließenden zum Albtraum geronnenen Hexensabbat vermag Mäkelä neue Maßstäbe in der Modellierung psychedelischer, elliptisch rhythmisierter Klangwirkungen zu erzielen. Dahinter ist freilich stets ein ausgeprägter Formwille und eine ausgetüftelte Regie an Spannungsverdichtung wie Dekomprimierung spürbar.
Eine bessere Wahl nach diesem horriblen Hexensabbat als Ravels 90 Jahre später entstandene „La Valse ist kaum vorstellbar. Im Kontrast zum individualistischen Drama des aus den Fugen geratenen Künstlerlebens schuf Ravel in den bis zum Schwindel beschleunigten Zerrbildern des ganz und gar nicht harmlosen, noch weniger weltvergessenen Wiener Walzers eine musikalische Paraphrase für seine Eindrücke aus dem Ersten Weltkrieg.
Mäkelä steigert in seiner Interpretation im Vergleich zu anderen erstklassigen Aufnahmen noch einmal die quälende Wehmut, die Todesnähe, die gespenstische Ahnungsgewalt dieses „Poème choreographique“ mit der Agogik eines ganz ins französisch-militärische gleitenden Drehmoments im Dreivierteltakt. Die zentrifugalen Kräfte gewinnen mehr und mehr die Oberhand bis zur vollkommenen Dekonstruktion und Zerstörung der ursprünglichen Form, wenn das ganze sinfonische Gefüge wie gegen eine gläserne Wand kracht. Wie Mäkelä dieses makabre “Aus den Fugen geraten“ klanglich inszeniert, ist abgründig und beängstigend zugleich. Nichts für schwache Nerven!
Fazit: Das für mich persönlich bislang überzeugendste, musikalisch lichterloh brennende Album von Klaus Mäkelä und seinem zu jedem klanglichen Abenteuer bereiten Orchestre de Paris!
Dr. Ingobert Waltenberger