CD HECTOR BERLIOZ „LÉLIO ou Le Retour á la vie“ Live-Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 17.12.2000; ORFEO
„Oh! Dass ich sie nicht finden kann, diese Julia, diese Ophelia, nach der mein Herz sich sehnt! Dass ich mich nicht berauschen kann an dieser bittersüßen Wonne, wie nur die wahre Liebe sie schenkt; und dass ich, mit meiner Ersehnten auf irgendeiner wilden Heide vom Nordwind eingewiegt, nicht endlich eines Abends an ihrer Brust versinken kann in einen schwermutsvollen letzten Schlaf.“ Lélio Monolog
Ist ein Rezensent eigentlich befangen, wenn er vor 20 Jahren selber im Chor bei einer Aufnahme mitgewirkt hat, die er beschreiben soll? Ich denke nein, weil bei hunderten von absolvierten Konzerten in mehr als 25 Jahren u.a. in Singakademie und Singverein die Erinnerung an Einzelabende nur noch sehr rudimentär vorhanden ist. Bei „Lélio“ denke ich spontan vor allem an die eindringliche Leistung von Joachim Bissmeier, einem begnadeten Thomas Bernhard Darsteller am Wiener Burgtheater, als emphatisch vibrierenden Erzähler und natürlich an den großartigen Dirigenten Michael Gielen, mit dem jede Zusammenarbeit ein musikalisch gewinnbringendes Unterfangen war.
Bei „Lélio“, der wohl als Alter Ego eines verliebten Hitzkopfes aufgefasst werden darf, dürfen höchstpersönliche Erlebnisse des Komponisten – wie so oft – als große Inspirationsquelle gelten. Es war halt wie bei der „Symphonie fantastique“ die wie besessen herbeigesehnte Liebe zur irischen Schauspielerin Harriet Smithson. Wer sich genau über den Werdegang, aber besonders die Extremwetter-Seelenlage des Hector Berlioz informieren möchte, dem seien seine Memoiren („Lebenserinnerungen“) ans Herz gelegt. Mit welcher spätpubertären Begeisterung der erwachsene Berlioz die Angebetete umschwärmt und zunächst null Reaktion erhält, ist ebenso erstaunlich wie seine rührende Emotionalität, durchsetzt von markerschütterndem Selbstmitleid, exhibitionistisch zur Schau gestelltem Überdruss und Ekel, und einer ungeheuren Beharrlichkeit, ja Zähigkeit auf dem Weg zur einer „Art wahren Künstlernatur.“
Das für heutige Begriffe unfassbare Pathos des Textes des lyrischen Monodramas in sechs Teilen für Sprecher, Chor und Orchester wird musikalisch subtil ausgedeutet. Es fügt sich das empfindsam mit Shakespeare und Goethe als Paten versetzte Künstlerdrama zu all der imaginierten Sehnsucht und einem trunkenem Todesverlangen zu einer letztlich fruchtbaren Kreativwerkstatt. Vom Glücksgesang zu Klagelied, von Wut- und Verzweiflungstränen, von schmerzlichen Träumen, von einer desillusionierenden Wirklichkeit hin zur hehren, ins Elysium enthobenen Kunst scheint es nur ein kurzer Weg.
Dabei wollte Berlioz sicherlich zuerst einmal der bei der Uraufführung im Publikum sitzenden Harriet mit seiner Huldigung imponieren. Ist es deshalb so, dass er aus Zeitmangel bei drei von sechs Nummern auf seinen eigenen Fundus zurückgriff und sich schamlos bei seiner Kantate „La mort de Cléopâtre“ (für den „Chor der Schatten“ – einer Heraufbeschwörung der gespenstischen Atmosphäre von „Hamlet“) und gleich zweimal bei der Kantate für den Rompreis „La mort d‘Orphée“ (für den ,Chant de bonheur‘ – ,Erinnerungen‘ sowie für das Instrumentalstück ,Die äolische Harfe‘) bediente? Oder wollte Berlioz nur die Wirkungsmacht seiner Musik, die Effizienz seiner Schaffenskraft bei einem weiblichen Wesen auf die Probe stellen? Wie auch immer, er erreichte seinen Zweck. Allerdings war kurz nach der Heirat mit Harriet schon wieder Schluss mit dem Honeymoon. Kein Wunder, welche noch so glänzende Realität könnte der Einbildungsintensität, der alle Genzen sprengenden Kreativität eines so hochfliegenden Fantasten standhalten?
„Lélio“ kennt drei Pole, um die sich dieses so herzenswüst arrangierte Pasticcio dreht: Das vom Komponisten selbst verfasste Textbuch, heroisch klassizistisch, als Glorifizierung der Künste und gleichzeitig intimes Ständchen ist eine mit Gesang geschmückte Novität in der Kunstgeschichte. Neben weniger interessanten ariosen Nummern wie der Tenor-Ballade „L‘onde fremi“ (von Herbert Lippert leider mit kurzem Vibrato und sehr enger Höhe gesungen) sind es vor allem die großen Chöre, die dem Stück Bedeutung, avantgardistisches Interesse und Tiefgang verleihen. „Froid de la mort“ ist ein kühnes Stück Chor, das zu den schönsten Schöpfungen von Berlioz zu zählen ist. Der niederländische Bariton Geert Smits als Capitaine bleibt im vom Chor begleiteten Chanson de brigands „J‘aurais cent ans“ wie Lippert stimmlich blass. Und dann gibt es einen Orchesterpart, der ebenso auf- wie anregend alles mit Klangsinn unterlegt, kantig schärft und auf Stratosphären an musikalisch blendender Irrlichterei erhebt.
Dementsprechend glänzt das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra unter Michael Gielen mit schwertscharfen markanten Bläserfanfaren und präzise synkopierten Rhythmen. Überhaupt bildet Gielens „sachlich virtuoser“ Ansatz den überzeugenden Gegensatz zum überschäumenden Gefühlsepos.
Der im weiteren Verlauf logisch platzierte „Chant de bonheur“ liegt dem sonst überaus geschätzten, damals lyrischen Tenor von Lippert besser, wenngleich auch da nicht zu überhören ist, dass er nicht seinen besten Abend hatte.
Das reine Orchesterstück „La harpe éolienne“ mit einem zauberhaften Klarinettensolo stellt wie die nachfolgende Fantaisie sur la Tempête de Shakespeare „Miranda!“ mit dem Chor der Luftgeister die Frage nach den Illusionen und wissenden Vorahnungen im Leben. Gefällige Harfenarpeggien, harmonische Kühnheiten und eine beinahe Stravinsky-vorwegnehmende Motorik verheißen Miranda aus dem „Sturm“ Abschied und Liebesglück.
Dieser 12. Abschnitt ist die große Stunde des fabelhaft und irisierend schillernd aufspielenden Orchesters als auch der Wiener Singakademie, die sich unter der Leitung von Heinz Ferlesch als erstklassig präpariert erweist. Aber schließlich ist es Michael Gielen, der mit seinem drahtig sehnigen Dirigat für eine Spannung sorgt, die vielleicht sogar Nikolaus Harnoncourt in seinem harten Urteil über Berlioz versöhnlicher gestimmt haben könnte.
„Genug für heute. Lebt wohl Freunde. Nochmals ? Nochmals und für immer!“
Dr. Ingobert Waltenberger