CD HECTOR BERLIOZ: LA DAMNATION DE FAUST – EDWARD GARDNER dirigiert das LONDON PHILHARMONIC ORCHESTRA
Live Mitschnitt vom 4.2.2023 Southbank Centre’s Royal Festival Hall
Die zeitgenössische Kritik, dass Berlioz Goethes Fauststoff mit seiner „Damnation“ brutalisiert, gar vandalisiert hätte, weil ohne Läuterung des Zweiten Teils konzipiert, wird heute wohl niemand mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Vielmehr ist des Franzosen orchestrale Erfindungsgabe, die Instrumentierung und, ja, wir kennen das von der „Symphonie fantastique“, Berlioz‘ Sinn für unheimliche Stimmungen und dämonische Klanggemälde zu bewundern. Die 1846 an der Opéra comique konzertant uraufgeführte „Légende dramatique“ in vier Bildern stützt sich auf die Übersetzung von Goethes Faust I von Gérard de Nerval, wurde aber auch von Lithographien des Eugène Delacroix stimuliert.
Berlioz hat tief in seinen Imaginationszauberhut gegriffen, und gekonnt bukolisch magyarische Ebenen, Auerbachs Weinkeller, Elfen und Nymphen, surreale Traumgebilde, schwefelig gezupfte Serenaden mit Menuett-tanzenden Irrlichtern, eine vor Zynismus triefende Liebesgeschichte und eine teuflisch prächtige Höllenfahrt evoziert. Musikalisch realisiert hat Berlioz die Geschichte um den tragischen Tod der Marguerite und seine Seele an Mephisto verhökernden Dr. Faust mit einer ganz spezifischen Ausprägung einer hybriden Chorsymphonie samt Arien, Duetten und Ensembles, sardonischem Humor und gespenstisch guten Kontrastwirkungen.
Die Szenenabfolge ist dramaturgisch präzise gestaltet. Natur, Männerbündlerei und Liebe wirbeln in einem furiosen Ringelspiel des menschlichen Sehnens und Strebens, sexueller Gier, fettklumpiger Sentimentalität und pechschwarzer Schuld bis zum klaffenden Abgrund, Faustens Ritt in die Hölle entspricht Marguerites Erlösung.
Diese Melange klang- und effektvoll in zahllosen Details, aber mit G‘spür für das Ganze auszuleuchten, ist die Stärke der Aufführung unter der musikalischen Leitung von Edward Gardner. Seit 2021 ist Gardner Principal Conductor des vorzüglichen London Philharmonic Orchestra, ab Sommer 2024 wird er Musikdirektor an der Norwegischen Oper in Oslo sein. „La Domination de Faust“ hat der die beste britische Berlioz-Tradition fortführende Maestro schon an der New Yorker Met (mit Elīna Garanča als Marguerite) dirigiert. Mit Lust an im Fegefeuer gegrillter Romantik führt er das exzentrische, aus einer Anzahl hitverdächtiger Nummern zusammengesetzte Werk zum finalen Chor der himmlischen Geister. Insbesondere die fintenreiche und drastische Gestaltung der Chorszenen, und nicht zuletzt das allmähliche Garen der Geschichte in der Londoner Klangfarbenküche unter orchestraler Hochspannung lassen die Aufführung zum packenden Ereignis werden.
Die Geschichte von Faust, Marguerite, Mephistopheles und Brander wirkt Gardner zu einem kunstvollen Gobelin pittoresker Licht- und Schattengestalten, melancholischer bis jauchzender Soli und schmissiger Tutti. Insbesondere Holz und Blech, u.a. Piccolo (Menuet des follets!), Klarinetten, Oboen und Hörner werden zu veritablen Playern im dramatischen Miteinander. Die theatralische Ausrichtung des Dirigenten steht der dämonischen Konzeption bestens.
Der um Members des London Symphony Chorus sowie des London Youth Choirs verstärkte London Philharmonic Choir brilliert in der (stimm)charakterlich so unterschiedlichen Verkörperung von Bauern und Dorfbewohnern, besoffenen Studenten, Gnomen und Sylphen, Christen, Soldaten, Nachbarn, Höllengeistern und Seraphim.
Das nicht sonderlich homogene Solistenquartett setzt sich aus Karen Cargill (Marguerite), John Irvin (Faust), Christopher Purves (Mephistopheles) und Jonathan Lemalu (Brandner) zusammen. Stilistisch, von Projektion, den hellen Stimmfarben, einer silbrig glänzenden Höhe und seinem top Französisch her überzeugt in erster Linie der amerikanische Tenor John Irvin als Faust.
Sein Counterpart, der süffisant die faustischen Schwächen für sich nutzende Mephistopheles, ist mit dem britischen Bariton Christopher Purves exzellent besetzt. Weniger dunkler Dämon, denn zynischer Spielmacher, gewinnt der mit zunehmend diabolischer Freude an dem immer näher rückenden Sieg über eine weitere verlorene Seele an Kontur.
Jonathan Lemalu leiht seinen rauen, im Vergleich zu Purves wesentlich schwärzeren Bass dem Brander.
Bleibt die Mezzosopranistin Karen Cargill als Marguerite. Mit zwar üppiger Mittellage, aber ebenso überreifem Vibrato und scharfen Höhen empfiehlt sie sich für diese Rolle nicht (mehr), zumal sie bereits in der Simon Rattle Aufnahme des Stücks mit dem LSO vom September 2017 gemeinsam mit Christopher Purves als Mephistopheles die Marguerite wesentlich stimmfrischer verkörpert hat.
Fazit: Instrumental und chorisch ein Ereignis, ist die Achillesferse der atmosphärisch so dichten Aufführung die uneinheitliche, teils unbefriedigende, sich noch dazu mit einer Vorgängerpublikation aus London doppelnde Besetzung.
Dr. Ingobert Waltenberger