CD HAYDN STREICHQUARTETTE OP. 20, ST. LAWRENCE STRING QUARTET; eaSonus
“Das wahre Ausmaß der Größe Haydns ist für den Kenner ein gut gehütetes Geheimnis, für das breitere Publikum eine tickende Zeitbombe, die noch hochgehen wird.” Robin Holloway 1998
Mir fällt als Maßstab für die vorliegende Einspielung nur Nikolaus Harnoncourt ein, der die frühen Symphonien Wolfgang Amadeus Mozarts dadurch rehabilitierte bzw. sie als Meisterwerke ihres Genres auswies, weil er sie Ernst nahm und voller Begeisterung unbefangen las und aufführte. Die so entstandenen Aufnahmen mit dem Concentus Musicus Wien gehören zu den aufregendsten Interpretationen des an Tonträgern wahrlich reichen Vermächtnisses des Grazer Maestros.
Genaus so geht es mir beim Anhören der 6 Streichquartette von Joseph Haydn, unter der Opuszahl 20 zusammengefasst, in der Lesart des renommierten St. Lawrence String Quartets (SLSQ). Die Bänder entstanden 2016 und 2017 in der Bing Concert Hall der Stanford University in Kalifornien.
Die vier Glorreichen aus Stanford (Geoff Nuttall, Owen Dalby, Lesley Robertson und Christopher Costanza) streichen im Op. 20 des 40-jährigen Spätzünders Haydn das Unvergleichliche und Neuartige im Kammermusikschaffen des Meisters aus Rohrau in nie gehörter Schärfe heraus. So gibt Cellist Christopher Costanza zu Protokoll, dass Haydn Op. 20 die Bühne für andere Komponisten bereitet hat, indem es klarstellt, dass ein Quartett nicht immer die Back-up-Band der ersten Violine sein muss.“ Geoff Nuttall ergänzt: „Jedes der Quartette Op. 20 umschließt mühelos eine ganze Welt. Im selben Werk finden sich Witz, Pathos, unglaublicher Ausdruck, strenger Kontrapunkt. Es ist ein Amalgam aus alledem, aber nicht aufdringlich.“
Was an der vorliegenden Publikation so für sich einnimmt, ist das Neben- und Miteinander von vier großen musischen Persönlichkeiten. Jede/r für sich ist ein Kapazunder an Technik, Vorstellung und individueller Hingabe. “Haydn trifft immer ins Schwarze ohne Fanfare, leise großartig.” Gefühl und Humor, opernhaftes Singen und umwerfender Kontrapunkt, launische Hinwendung (das Haar in der Suppe darf ruhig am Gaumen kratzen) und barocke Form in romantischem Entzücken, all das sind die Streichquartette von Haydn. Genauso gut wie diejenigen in der musikhistorischen Rezeption so gewaltig auf den Olymp gehobenen Beethovens. Man kann Beethoven und Haydn gleichermaßen lieben und wertschätzen, jeder Versuch eines drüber oder drunter muss armselig blieben. Diese Erkenntnis an kompositorischer Qualität darf gerade im Beethoven-Jahr nicht untergehen.
„In der ganzen Sechsergruppe gibt es nicht einen einzigen überflüssigen oder falschen Augenblick. Nie dumm oder geschwätzig. Der Stil ist kompakt, einfallsreich, zutiefst ausdrucksvoll.” (Lesley Robertson). Das SLSQ spielt auf modernen Instrumenten. Faszinierend und zutiefst beeindruckend für den Hörer ist, wie jeder dann, wann er/sie “dran” ist, das Heft in die Hand nimmt, acceleriert, entschleunigt, enthomogenisiert. Vier Kinder, die dabei sind, gemeinsam die ersehnte Muttersprache zu erlernen. Natürlich sind an der Interpretation manche Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis nicht spurlos vorbeigegangen, als da sind “Vielfalt der Artikulation, pointiert rhetorische Gesten, Verzierungen, Gebrauch oder Nichtgebrauch von Vibrato”.
Die St. Lawrencer haben Recht, wenn sie feststellen, dass die frühen Streichquartette von Joseph Haydn eine schrecklich unterbelichtete Ecke des Repertoires darstellen, nur echten Freaks bekannt und Haydn am meisten unter schwachen Interpretationen leidet.
Genau deshalb ist das vorliegende Album so wertvoll und für jeden Freund von inspiriert erlebter Kammermusik so unverzichtbar. Lassen Sie sich überraschen von der Erfindungswelt Haydns, aber auch vom Bürsten gegen den Strich des St. Lawrence String Quartet. Geben Sie sich divertierend diesen “Gelegenheitsmusiken” hin, dieser “Musik über Musik, wo Kontrast und Vielfalt geradezu triumphieren.” Dem Appell an das Gefühl schöpferischer Freiheit, es wird nirgendwo intensiver gehuldigt als mit dieser Doppel-CD.
Mein persönliches Album des Jahres!
Dr. Ingobert Waltenberger