CD HÄNDEL SERSE – FRANCO FAGIOLI und MAXIM EMELYANYCHEV sorgen für ein quirliges Barockspektakel; Deutsche Grammophon
Geht’s noch abgefahrener? Welche Oper beginnt schon mit solch einer seltsamen Liebeserklärung? Der sentimental melodramatische bis tollwütig jähzornige und bisweilen eben dadurch lächerliche Großkönig von Persien, Serse, dem alle Menschen und Getier untertan sind, bringt einer banalen Platane ein Ständchen. Und schon sind wir mittendrin in diesem surreal komischen dramma per musica Händels in drei Akten. Bei ihrer Uraufführung in London am 15. April 1738 im Kings‘ Theatre war dem Stück kein Erfolg beschieden. Nach nur fünf Vorstellungen wurde es abgesetzt und erst 200 Jahre später in Deutschland wieder auf die Bühne gebracht. Die skurrile Pflanzenanbetung „Ombra mai fu“ ist einer der größten Händel-Hits überhaupt geworden.
Wunderbar, wie die italo-amerikanische Kriminalromanautorin und vielfach geoutete Freundin barocker Opernwonnen, Donna Leon, auf ihre Weise das Paradox dieser 40. Oper (von 42) aus der Feder Händels umschreibt: „Während Serse sich noch in Liebesschmachten (für den Baum) ergeht, erscheint sein Bruder Arsamene in Begleitung seines Dieners Elviro, der die meiste Zeit betrunken ist, beide auf der Suche nach Arsamenes Geliebter, Romilda. Serse aber, kaum vernimmt er Romildas Stimme, erliegt deren Reiz, ohne zu hören, was sie eigentlich sagt (wie ungewöhnlich für einen Mann). Folglich entgeht ihm Romildas lakonische Bemerkung, seine Platane werde ihm höchstens mit einem Blätterrascheln antworten.“ Aber dann geht die Travestie erst so richtig los: Serses Braut Amastre, Rivalin Romildas, läuft in Männerkleidern durch die Gegend. Die Schwester Romildas, Atalante, liebt heimlich denselben Mann wie ihre Schwester. Dazu kommt noch die Bassbufforolle des Elviro, der sich als alte Blumenverkäuferin verkleidet, um unerkannt für seinen Herrn Arsamene diskret Botengänge ausführen zu können. Das geht ziemlich lang ganz gut, bis Serse aus Liebeskummer die Furien anruft, ihr Gift über ihn zu schütten. Kurze Zeit später kehrt jedoch wieder totaler Sinneswandel ein: Am Ende freuen sich alle über die Wiederherstellung von Ruhe, Glück und Frieden und feiern die Verbindung von Liebe und Ehre.
Ungeachtet eines der schlechtesten Opernlibretti aller Zeiten ist diese Farce um die Hybris von Liebe und Macht herrlich unterhaltsam. Selbstverständlich ist die genreübergreifende Mischung aus Komödie, semiseria und opera seria noch mit richtiggehend inspirierter, humorvoll ironisch pointierter Musik unterlegt. Für deren Interpretation interessieren wir uns bei dieser jüngsten Studioproduktion mit Franco Fagioli als Hampelmannregent – es soll die erste Einspielung der Oper Serse überhaupt mit einem Countertenor in der Titelrolle sein.
Das italienische Barockensemble „Il Pomo d’Oro“ unter der akzentuierten Leitung eines der am hellsten aufgehende Sterne am Dirigentenhimmel, Maxim Emelyanychev, legt dafür einen geometrisch ornamentierten fliegenden Perserteppich aus Musik aus.
Landauf landab sind Fagioli und das CD-Ensemble mit Serse aktuell live unterwegs vom Théâtre des Champs-Elysées über Toulouse (Halle aux Grains) bis hin zur Philharmonie in Essen. Der Erfolg dürfte ihnen final sicher sein. Das liegt in erster Linie an der guten Besetzung der sieben Protagonisten, charaktervoll in den Timbres und mehr auf (bisweilen übertriebenen) Ausdruck als auf puren Wohlklang bedacht. Franco Fagioli selbst besitzt sicher nicht die schönste aller Countertenorstimmen, zu vibratoreich und unstet kommt sie bisweilen daher. Auf Eleganz im Vortrag und eine hohe Präzision in den Verzierungen wird man vergeblich warten, zudem haftet diesem der Liebe zur Braut seines Bruders entflammten Herrscher kaum Poetisches noch Heroisches an. Aber wer könnte die Hysterie der Figur, die verrückte emotionale Achterbahn, schlicht ihre extreme Ambiguität, ja gar Monstrosität besser in virtuoseste und vielfältigste Töne kleiden als dieser argentinische Shooting Star? Die stupenden drei Oktaven Stimmumfang ringen bei aller Exzentrik jedem Melomanen große Bewunderung ab.
Die eigentliche Entdeckung der Einspielung ist der Bassbariton Biagio Pizzuti in der Rolle des Dieners Elviro. Saftig viril, komisch bis zum Umfallen besingt er die Freuden des Rausches. Die lettische Sopranistin Inga Kalna darf als heißumworbene Romilda ihre Luxusstimme mit hohem Wiedererkennungswert zum Leuchten bringen. Die Höhen blühen in der Kuppel, Agilität und Dramatik gehen Hand in Hand. Vivica Genaux‘ schöner Mezzo hat schon etwas Patina angesetzt, sie forciert manchen Spitzenton. Dennoch überzeugt Genaux in der Hosenrolle Arsamenes mit einem satinierten Timbre und toller Tiefe. Atalante sitzt Francesca Aspromonte gut in der Goldkehle, Delphine Galou kann mit ihrem Kontraalt als eifersüchtige Amastre toben und rasen. Andrea Mastroni als Ariodate ergänzt dieses gute, aber im Zusammenklang nicht immer perfekte Ensemble.
Orchester und Dirigent machen ihre Sache historisch informiert gut. Weniger Sachlichkeit und dafür mehr lyrischer Überschwang hätten die drei Stunden Aufführungsdauer trotz der hohen Spannungsdichte vielleicht noch etwas abwechslungsreicher gestalten können. Nicht nur in Anbetracht der wenig üppigen Vergleichsdiskographie (William Christie, Nicholas McGegan, Jean Claude Malgoire, Ivor Bolton, Christian Curnyn) ist der neue Serse eine willkommene Neuerscheinung. Für mich ist aber nach wie vor die – ebenfalls beim Gelblabel erschienene – Einspielung mit Maureen Forrester und Lucia Popp aus Wien 1965 unter der musikalischen Leitung Brian Priestmans sängerisch unübertroffen.
Dr. Ingobert Waltenberger