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CD GUSTAV MAHLER: „Titan“ – eine Tondichtung in Symphonieform in zwei Teilen und fünf Sätzen für großes Orchester; Les Siècles – harmonia mundi

02.07.2019 | cd

CD GUSTAV MAHLER: „Titan“ – eine Tondichtung in Symphonieform in zwei Teilen und fünf Sätzen für großes Orchester; Les Siècles – harmonia mundi

Im Rahmen der Gesamtaufnahme aller Mahler-Symphonien unter der Stabführung des französischen Dirigenten François-Xavier Roth wurde die zweite Fassung von Hamburg/Weimar 1893-94 der entstehungsgeschichtlich so komplexen ersten Symphonie gewählt. Mahler hat das in  Budapest 1889 uraufgeführte Werk in seiner Zeit als Kapellmeister in Hamburg 1893 überarbeitet und als „Titan“ bezeichnet. Den ersten Teil hat er „Aus den Tagen der Jugend, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke“, den zweiten Teil als „Comedia humana“ programmatisch betitelt.

Mahler hatte sich zur Zeit des Beginns der Komposition in Leipzig 1888 leidenschaftlich in Marion von Weber, die Ehefrau des Hauptmanns Carl von Weber (Enkel des Komponisten Carl Maria von Weber) verliebt. Dieses Hin- und Hergerissen-Sein zwischen Anziehung und Schuldgefühlen mag auch für den besonderen Ton verantwortlich sein, mit dem Mahler Erlebnisse aus der Kindheit, die Visionen des jungen Studenten und rebellischen Neuerers in ein dicht gewebtes, forsch geschnittenes Klangkleid geflochten hat. Wenn ein Werk schon „Titan“ heißt  (der Titel geht auf einen Roman von Jean Paul zurück), dann dürfte klar sein, dass es im universellen Sinn um das Leben eines vor jugendlicher Kraft strotzenden Helden geht, um dessen „Leiden, Ringen und Unterliegen gegen das Geschick.“ Also wohl um Gustav Mahler selbst.

Dafür spricht nicht zuletzt, dass sich in der Einleitung eine ganz persönliche Erfahrung Mahlers niederschlägt. Der kleine Gustav, vom tyrannischen Vater auf einer Parkbank stundenlang alleine zurückgelassen, um in der Weinstube der Familie was auch immer zu tun, schärft seinen Gehörsinn auf alle Laute der Natur. Das Grundsummen der Stadt wird überlagert von militärischen Klängen aus der Kaserne (im Stück Hörner und Trompeten aus der Ferne), dann lauscht er einem Zwiegespräch von zwei  auf einem Baum sitzenden Kuckucksvögeln. Die Musikologin Anna Stoll Knecht und der Dirigent Benjamin Garzia beschreiben die Mühe Mahlers mit der Entwicklung seines symphonischen Erstlings vor allem mit dem Ziel der Verfeinerung der Instrumentierung in Richtung „Naturlaute“ und Klangerweiterung (etwa durch eine Verdoppelung der Holzbläser).

Mahler hat zu seiner zweiten Fassung umfangreiche programmatische Anmerkungen hinterlassen: Mit dem „Frühling und kein Ende“ erwacht die Natur in einem dionysischen Tanz aus einem langen Winterschlaf. Der an eine Serenade erinnernde Andante Satz „Blumine“ – in der üblichen viersätzigen Letztfassung  vollkommen gestrichen – zitiert musikalisch den „Trompeter von Säckingen“. Das Scherzo “Mit vollen Segeln“ sieht den Helden wie Siegfried auf der Fahrt. Der zweite Teil beginnt düster mit dem „Todtenmarsch“, Hasen, Katzen, Krähen und andere Waldtiere tragen einen toten Jäger zu Grabe. Dann erklingt der Kanon Bruder Jakob, karikaturiert verzerrt. Im Finale „Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens“ stirbt unser Heroe standesgemäß unter Lawinen von krachendem Blech.

Das Album ist musikgeschichtlich von hohem Wert. Dennoch erscheint mir die letzte viersätzige Fassung dramaturgisch stringenter, spannungsreicher und kühner instrumentiert. Dem hochmusikalischen François-Xavier Roth und seinem erstklassiges Orchester Les Siècles ist diesmal gemessen an ihrem gewohnt künstlerischen hohen Niveau interpretatorisch nicht der große Wurf gelungen. Die breiten Tempi und die vorsichtig gesetzten Akzente tun das ihrige, damit der Hörer sich etwa nach der fantastischen Aufnahme der letzten „Ersten“ des Chicago Symphony Orchestra unter Pierre Boulez sehnt.

Die ebenso kürzlich erschienene von François-Xavier Roth geleitete Aufnahme der dritten Symphonie Gustav Mahlers mit dem Gürzenich-Orchester Köln ist mir da wesentlich lieber. Das kann ja wohl nicht daran liegen, dass diesem Orchester gemeinsam mit der Städtischen Kapelle im Sommer 1902 die Uraufführung in Krefeld anvertraut war?

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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