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CD GUSTAV MAHLER Symphonie Nr. 8, The Philadelphia Orchestra; YANNICK NÉZET-SÉGUIN; Deutsche Grammophon

06.04.2020 | cd

CD GUSTAV MAHLER Symphonie Nr. 8, The Philadelphia Orchestra; YANNICK NÉZET-SÉGUIN; Deutsche Grammophon

 

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche hier wird‘s Ereignis; das Unbeschreibliche hier ist‘s getan; das Ewig Weibliche zieht uns hinan.“ Goethe Faust II

 

Der vorliegende Live-Mitschnitt entstand 100 Jahre nach der amerikanischen Erstaufführung durch das Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski  mit 1068 Mitwirkenden im März 1916. Yannick Nézet-Séguin dirigierte sein Philadelphia Orchestra, unterstützt vom Westminster Symphonic Choir, der Choral Arts Society of Washington, dem American Boychoir, Michael Stairs auf der Orgel die auch als „Symphonie der Tausend“ bekannt gewordenen Achte Mahler. Das Solistenensemble umfasste Angela Meade (Sopran I), Erin Wall (Sopran II), Lisette Oropesa (Sopran III), Elizabeth Bishop (Kontraalt I), Mihoko Fujimura (Kontraalt II), Anthony Dean Griffey (Tenor), Markus Werba (Bariton)  und John Relyea Bass).

 

Diese Symphonie ist ein gewaltiges Ding. Ein kalt kritischer Geist könnte Kitsch, Größenwahn oder triefendes Pathos anmerken. Wer je daran mitgewirkt hat, weiß auch von den Brüllorgien, die sich die Choristen im ffff liefern, weil sie sich im dichten Orchestersound nicht hören und auch nicht mehr „kontrolliert“ singen können. Der Pfingsthymnus „Veni Creator Spiritus“ verlangt zudem von den ersten Sopranen im „Gloria si Patri Domino“ Unmenschliches ab, nämlich über viele Takte lang das hohe C zu halten. Dennoch verfehlt eine Aufführung kaum ihre Wirkung auf das Publikum.

 

Auf Tonträgern gibt es eine weitere Herausforderung: Die Aufnahmetechnik muss Wunder vollbringen, damit neben der Wucht des „Veni Creator Spiritus“ auch die leisen und kammermusikalischeren Stellen im Zweiten Teil, der Schlussszene aus Goethe‘s Faust II, räumlich gut zur Geltung kommen. Dass das nicht einfach ist, wissen wir. Jüngst ist der sonst so großartige Mahler Dirigent Adam Fischer bei seiner neuen Aufnahme mit den Düsseldorfer Symphonikern glorios gescheitert.

 

Umso größer ist die Überraschung und Freude, dass Yannick Nézet-Séguin nun mit der Jubiläumsshow eine der besten Wiedergaben des im Komponierhäuschen Mahlers in Maiernigg am Wörthersee 1906 konzipierten, formal einer Kantate ähnlichen Werks auf Tonträgern geglückt ist. Die Singstimme als Instrument hat Beethoven erfunden, und Mahler in seiner Alma Mahler gewidmeten Achten Symphonie auf die Spitze getrieben. Zwei große gemischte Chöre, Kinderchor, acht Solisten. Anlässlich der Uraufführung am 12. September 1910 in München nahmen 858 Sängerinnen und Sänger sowie 171 Orchesterleute teil. Mahler selbst dirigierte. Diese exorbitanten Zahlen gibt es heute nicht mehr. 

 

Der Mitschnitt aus der Verizon Halle im Kimmel Center Philhadelphia imponiert in seiner Gesamtheit enorm. Yannick Nézet-Séguin versteht es, die geistliche in lateinischer Sprache gesungenen Chorkantate mit der weltlichen deutschsprachigen opernhaften Faust II Vertonung zu einer höheren Einheit zu verknüpfen. Er wählt durchwegs flüssige Tempi, vor allem im Zweiten Teil gibt es keine durch künstliche Pausen verursachten Leerläufe. Von der Emphase und Emotion steht er Leonard Bernstein in nichts nach. Wollte Bernstein gestisch die ganze Menschheit urbi et orbi umarmen, so spürt Nézet-Séguin vielmehr der subjektiven Welt Mahlers, dieser speziellen „persönlichen, musikalischen, literarischen und philosophischen Synthese“ (Christopher H. Gibbs) nach. 

 

Eine weitere Stärke der Wiedergabe liegt in der großen Geschlossenheit des Solistenenembles, das keine Schwäche und nirgendwo Überforderung aufweist. Die Chöre singen makellos, die Aufnahmetechnik bietet Wunder an herrlichstem Orchesterklang, Tiefenstaffelung und Transparenz. Die CD ist mit über 83 Minuten zudem übervoll. 

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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