Rätselhaftes Licht und funkelnde Nacht: Sir Simon Rattle und Mahlers Siebte
Kurz vor seinem 70. Geburtstag präsentiert Sir Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eine Live-Aufnahme von Gustav Mahlers siebter Sinfonie. Eingespielt in der modernen Isarphilharmonie in München im November 2024, setzt Rattle damit seinen beeindruckenden Mahler-Zyklus fort. Die „Lied der Nacht“ genannte Sinfonie, lange als eines der rätselhaftesten Werke Mahlers empfunden, verlangt eine fein austarierte Balance zwischen Dunkelheit und Licht. Rattle nähert sich dieser Herausforderung mit analytischer Präzision und einem beeindruckend klangschönen Orchester an seiner Seite. Dabei lässt er der Musik den Vortritt, ohne dabei zu viel Eigensinn zu interpretieren.
Mahlers Siebte, mit ihren fünf Sätzen ungewöhnlich strukturiert, führt den Hörer auf eine Reise durch nächtliche Szenen, bizarre Träume und triumphierende Helligkeit. Eingebettet in die Naturidylle des Wörthersees, wo Mahler sie komponierte, steht sie für das Wechselspiel von Leid und Freude, Dunkelheit und Licht. Der symmetrische Aufbau mit zwei „Nachtmusiken“, die ein Scherzo einrahmen, und einem gewaltigen Kopfsatz, der mit dem strahlenden Rondo-Finale korrespondiert, macht sie zu einem Meisterwerk der musikalischen Architektur.
Rattle beginnt das Werk mit einer unheimlichen Dichte. Die einleitenden Klänge des Tenorhorns, entfalten eine geradezu mystische Aura, bevor sich der Marschrhythmus durchsetzt. Besonders das subtile accelerando vor der Reprise verleiht dem Satz eine fesselnde Dynamik. Die orchestrale Farbpalette wird dabei fein ausgespielt – von geheimnisvollen Holzbläserdialogen bis zu strahlenden Blechfanfaren.
In der ersten Nachtmusik zeigt sich die Präzision des Orchesters: Die Dialoge zwischen Horn und Klarinette wirken wie ein intimer Tanz, geprägt von geheimnisvoller Spannung. Rattle gestaltet die dynamischen Kontraste mit Feingefühl, wodurch die Atmosphäre zwischen Idylle und Bedrohung changiert.
Mit düsterem Witz und feinen Nuancen erschafft Rattle im folgenden Scherzo eine geisterhafte Szenerie. Der Satz sprüht vor Spielfreude und pointierter Artikulation, was ihn zu einem der Höhepunkte der Aufnahme macht.
In der zweiten Nachtmusik glänzen Gitarre und Mandoline in diesem lyrischen Satz mit einer warmen, gesanglichen Interpretation gemeinsam mit der fein singenden Solovioline. Rattle betont die träumerische Qualität und lässt die Streicher in einem dynamischen Spannungsbogen erstrahlen, der von fragiler Intimität bis hin zu opulentem Klang reicht.
Das Finale ist ein Fest der orchestralen Farben. Die Nähe zu Wagners „Meistersingern“ ist unüberhörbar, doch Rattle verleiht dem Satz eine eigene narrative Kraft. Der humorvolle Unterton wird durch federnde Tempi und eine präzise, doch immer spontane Orchesterführung unterstrichen. Das Blech brilliert mit strahlenden, fast „bayerisch“ ausgelassenen Fanfaren, was eine charmante Verbindung zur Münchner Heimat des Orchesters schafft.
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks knüpft mit dieser Aufnahme an seine lange Mahler-Tradition an, die unter Dirigenten wie Rafael Kubelík, Lorin Maazel, Bernard Haitink und natürlich Mariss Jansons Maßstäbe setzte. Besonders beeindruckend ist das Zusammenspiel der Solisten: Die Holzbläser liefern poetische Linien, das Blech brilliert mit technischer Perfektion, und die Streicher beeindrucken mit dynamischer Flexibilität. Die Kontrabässe, die Mahler oft prominent einsetzt, entfalten eine Ausdruckskraft, die den gesamten Klangkörper erdet. Das vielschichtige Schlagzeug steuert vielfältige Farben in dynamischer Feinabstimmung bei.
Sir Simon Rattle gelingt mit dieser Einspielung ein überzeugendes Plädoyer für dieses Werk. Sein tiefes Verständnis für Mahlers vielschichtige Klangwelten zeigt sich in der fein abgestimmten Balance zwischen Emotionalität und analytischer Schärfe. Besonders hervorzuheben ist sein Gespür für Tempi, die zwar zügig, aber nie überhastet wirken. Rattle führt das Orchester durch die Nacht und in das Licht, ohne die dunklen Abgründe zu beschönigen.
Dirk Schauß, im Januar 2025
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 7
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Simon Rattle, musikalische Leitung
BR-Klassik, 900225