Klangweite und Weltbetrachtung – Semyon Bychkovs Dritte Mahler
Gustav Mahlers monumentale dritte Sinfonie ist ein klingendes Universum, eine Welt in sich, die Natur, Mensch, Himmel und Erde umspannt. Mit ihrer gut anderthalbstündigen Dauer ist sie die längste aller Mahler-Sinfonien, ein Werk, das gewaltige orchestrale Kräfte fordert und in seiner Gestaltung zwischen derber Volkstümlichkeit und transzendentaler Erlösung oszilliert. In der neuen Aufnahme der Tschechischen Philharmonie unter Semyon Bychkov wird diese Sinfonie als existenzielle Lebenserzählung zelebriert. Gemeinsam mit der Mezzosopranistin Catriona Morison, dem Prager Philharmonischen Chor und dem Kinderchor Pueri Gaudentes erkundet Bychkov die Weiten dieses faszinierenden Werkes mit bedachter Ruhe und kluger Agogik.
Mahlers Dritte ist ein Universum aus Klang, eine Weltbetrachtung in sechs Sätzen. Jeder Satz steht für eine Daseinsstufe: von der wuchtigen Entstehung der Welt im ersten Satz über die Natur- und Tierwelt, den Menschen und die Liebe bis hin zur erlösenden Transzendenz des Finales. Das Werk kombiniert Elemente aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ mit Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ und führt im letzten Satz in eine Sphäre erhabener Ruhe.
Semyon Bychkov, der mit dieser Einspielung seinen Mahler-Zyklus mit der Tschechischen Philharmonie beim Label Pentatone fortsetzt, erlebte die Dritte erstmals als zehnjähriger Chorknabe. Diese erste Begegnung entfachte seine lebenslange Faszination für Mahler, die nun in dieser Aufnahme ihren Ausdruck findet. Bychkovs Interpretation ist geprägt von gemessenen Tempi und einer epischen Ruhe. Die ersten Takte des gewaltigen Kopfsatzes tönen mit unerbittlicher Gravität. Hier nimmt sich Bychkov viel Zeit, um die wuchtigen Marschmotive und die heroisch-drängenden Hörner in großzügigen Bögen zu entfalten. Dennoch fehlen dem Schlagzeug stellenweise Prägnanz und Schärfe – die Pauken und Becken könnten dominanter aus der Orchestertextur herausragen.
Im zweiten Satz tritt das Pastoralhafte in den Vordergrund. Streicher und Holzbläser zeichnen hier ein idyllisches Naturbild, das Bychkov mit feiner, aber bewusster Zurückhaltung dirigiert. Der dritte Satz, mit seinen Anleihen an das „Wunderhorn“-Lied „Ablösung im Sommer“, besitzt kluge dynamische Abstufungen und feine orchestrale Transparenz, wenngleich die Naturstimmung nicht ganz so schalkhaft gerät wie in manchen anderen Einspielungen.
Der vierte Satz bringt den Moment der Innenschau mit Nietzsches „O Mensch! Gib acht!“. Hier liegt eine Schwäche der Einspielung: Catriona Morisons Mezzosopran bleibt interpretatorisch an der Oberfläche. Ihre dunkle, gut timbrierte Stimme besitzt zwar Wärme, doch es gelingt ihr nicht, hinter den Text zu blicken und die metaphysische Dimension dieser Musik zu erfassen. Ihre Stimme klingt allzu gegenwärtig und geheimnislos. Im Gegensatz zu ihr gelingt dies in vollendeter Weise der Tschechischen Philharmonie mit unendlichen Farbgebungen.
Der fünfte Satz mit den Kinderstimmen bringt eine plötzliche Wende ins helle, naive Staunen, bevor das erhabene Adagio den Gipfel der Sinfonie erklimmt. Hier liegt Bychkovs stärkste Leistung: Die ausgedehnte, atmende Klangweite dieses Finales entfaltet sich in nahezu spiritueller Entrückung, das Orchester schwebt, die Linien weiten sich, das Fortissimo bricht mit unerbittlicher Wucht herein. Ein Abschluss, der wie aus einer anderen Welt tönt.
Klangtechnisch präsentiert sich die Aufnahme in beeindruckender Räumlichkeit und Tiefe. Das Orchester klingt weiträumig und atmend, besonders die feine Abstimmung zwischen den Streichergruppen ist mustergültig. Lediglich hätte das Schlagwerk an einzelnen Stellen markanter hervortreten können.
Bychkov erzählt Mahlers Dritte als großes, in sich ruhendes Panorama des Lebens, mit kluger Tempowahl und weiten Bögen. Manche Passagen mögen für manche Hörer allzu bedächtig wirken, doch dies ist eine konsequente und wohlüberlegte Interpretation eines großen Dirigenten, der genau den Charakter der Musik erfasste. Eine Aufnahme, die vor allem in der orchestralen Detailarbeit und im grandiosen Adagio ihre stärksten Momente besitzt.
Dirk Schauß, im Februar 2025
Gustav Mahler Sinfonie Nr. 3
Pentatone, PTC: 5187363