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CD GÜNTER RAPHAEL: SYMPHONIE Nr. 1 – FABIAN ENDERS dirigiert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien; Prospero

19.05.2025 | cd

CD GÜNTER RAPHAEL: SYMPHONIE Nr. 1 – FABIAN ENDERS dirigiert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien; Prospero

Fabelhaft gelungene Weltersteinspielung

adf

Günter Raphael, 1903 in Berlin geboren, war musikalisch ein Vertreter der Spätromantik und des Expressionismus/Neoklassizismus mit einem Hang zu kontrapunktischer Komplexität á la Max Reger. Schon früh zeigte sich die musikalische Begabung des Jungen, der eine fundierte Ausbildung im Klavier- und Orgelspiel, in der Komposition sowie als Dirigent erhielt. Mit 23 Jahren erlangte er die erste Anstellung als Lehrkraft für Kontrapunkt in Leipzig am kirchenmusikalischen Institut. 1926 war auch das Jahr, in dem seine Erste Symphonie in a-Moll, Op. 16, im Leipziger Gewandhaus mit dem renommierten gleichnamigen Orchester unter der prominenten Stabführung von Wilhelm Furtwängler ihre Premiere erlebte.  

Persönlich erfuhr Raphael als Halbjude im aufkommenden Nationalsozialismus Demütigungen und berufliche Hürden, die ab Februar 1939 in einem Berufsverbot gipfelten. In dieser schwierigen Zeit setzten Musiker wie Eugen Jochum und Rudolf Mauersberger mit Aufführungen seiner Werke 1938 entschlossene und mutige Akzente der Wertschätzung. Zu der politischen Bedrohungslage kam im Jahr 1940 eine Tuberkuloseerkrankung hinzu. Erst 1949 konnte Raphael als Lehrer für Klavier, Theorie, Musikgeschichte und Komposition am Städtischen Konservatorium Duisburg wieder einigermaßen Fuß fassen. Ab Mitte der 1950er Jahre unterrichtete er an der Staatlichen Musikhochschule Köln und am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz.

Günter Raphaels kompositorisches Werk ist mit ca. 300 Titeln alleine vom Umfang her beachtlich. Es umfasst Stücke für Orchester (Symphonien, Konzerte), viel Kammermusik, Musik für Klavier, Orgel und geistliche sowie weltliche Vokalkompositionen.  

Bei der nun vorliegenden Aufnahme des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter der musikalischen Leitung von Fabian Enders erfährt die polystilistische Symphonie nun ihre Tonträger-Premiere. (Hinweis: Sergiu Celibidache hat 1947 mit den Berliner Philharmonikern Raphaels vierte Symphonie aufgenommen; vgl. die bei Audite erschienene CD-Box „Berliner Aufnahmen 1945-1957“).

Dick instrumentiert und mit einer Spieldauer von 66 Minuten findet die Symphonie des jungen Wilden ihre harmonische Grundierung in der Hochromantik des 19. Jahrhunderts (Wagner, Brahms, R. Strauss), erweitert durch herb-polyphone Strukturen sowie unerwartete Einschübe atmosphärischer Strenge einer Neuen Sachlichkeit. Enders spricht vom „Wechselspiel hypertropher Chromatik und asketischer Modalität.“

Die Symphonie spiegelt vielleicht eine auseinanderdriftende Welt im Taumel von Genuss und Brutalität wider. Sie reibt sich im fragmentarischen Aufblitzen keimender Ideen mal nervös fiebriger Suche nach emotionalen Leuchttürmen. Musikalisch entspricht das Amalgam einer kontrastreichen Mischung aus plakativen, an Filmmusik erinnernden Episoden, hymnischen Fanfaren, sehnsuchtszitternden „Halbsätzen“, die sich allesamt onomatopoetisch bis abstrakt zu wahnhaften Collagen fügen, ohne sich in etwas zu lösen, geschweige denn erlösen. Der Komponist experimentiert, schachtelt und verschachtelt und scheint bisweilen selbst über seinen Mut und sein Ungestüm makaber scherzen zu wollen. Wunderbar, wie Dirigent Fabian Enders Raphaels Motivation und Erfahrungshoriziont gleichnishaft umschreibt: „In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg komponiert der junge Raphael wie einer, der um ein zusammengestürztes Schloss wandelt, in dessen Trümmern sich viele Schätze finden. Er entdeckt und birgt sie, ohne von ihnen sein Glück zu erhoffen.“ (Zitat aus einem Interview mit dem „Orchestergraben“ vom 14.5.2025).

Der Spiritus Rector des Unterfangens, der großartig engagierte Fabian Enders, und das selbst im Analytischen und kontrapunktisch Verschrobenen (3. Satz) noch immer klangschwelgerische ORF Radio-Symphonieorchester Wien arbeiten das Schroffe und Unversöhnlich-Raue der Partitur scharf konturiert heraus, ohne den immer wieder kurz durchscheinenden Reminiszenzen an romantische Verklärung etwas von ihrer lyrischen Strahlkraft zu nehmen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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