CD GRIGORY SOKOLOV spielt PURCELL & MOZART – Live Mitschnitte von San Sebastian und Santander August 2023; Deutsche Grammophon
Entschleunigungskunst vom Feinsten
Grigory Sokolovs solitäres Klavierspiel dem Grunde nach zu rühmen, hieße Eulen nach Athen tragen. Universal Music hat vom partiellen Systemverweigerer aus gutem Grund (er spielt nur noch Solo-Recitals, und die nicht im Studio) nun wieder ein Album vorgelegt, das sich in der Hauptsache (Encores ausgenommen) mit dem pianistischen Schaffen von Mozart und Purcell beschäftigt. Mitgeschnitten wurde live im Auditorio Kursaal San Sebastián (16.8.2023 Mozart) und im Palacio de Festivales de Cantabria Santander (18.8.2023 Purcell & Encores)
Drei Suiten von Henry Purcell und einiger kleinerer Stücke (aus einer 1696 posthum publizierten Sammlung von Werken für Cembalo bzw. Spinett) des Orpheus britannicus weisen Grigory Sokolov einmal mehr als Meister der Entschleunigung und damit für heutige Begriffe als radikalen Musiker, als präzisen Barden kontrapunktischer Geflechte, als bedachten Entwickler von Variationen aus. Dass Sokolov gestochen klare Triller, Vorhalte und Verzierungen aus sich selbst deutend spielen, dass er die Universen der leiseren Töne und sorgsam gewählter Tempi als Seismograph musikalischen Feintunings ausleuchten kann wie kein Zweiter, soll hier noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt sein. Bei den Stücken aus Henry Purcells Raritätenküche kommen Sokolov hörbar die nuancierten Erfahrungen mit der Musik von J.S. Bach entgegen.
Was Mozarts berühmte Klaviersonate Nr. 13 in B-Dur, KV 333, aus dem Jahr 1783 anlangt, so berühren die scheinbare Einfachheit, die sanftherbe Abgeklärtheit und freie Kantabilität der Interpretation genauso wie das kühlperlend ploppende Melos im Kopfsatz. Uns entzückt das mit offenem Staunen erfühlte und erfüllte Andante cantabile. Dem Allegretto grazioso begegnet Sokolov in kecker Burschikosität, dennoch stets die Noblesse dieses so ätherisch-verspielten Satzes und seine harmonischen Finessen respektvoll wahrend.
Als Anschluss des offiziellen Programms erklingt das späte Adagio in h-Moll, KV 540. Alles andere denn ein Zugaben heischender Reißer, herrschen hier die nachdenklichen, die Fährnisse der menschlichen Existenz hinterfragenden Töne vor. Den wühlenden Fatalismus, das innere Seufzen der Komposition lässt Sokolov in meditativer Kontemplation Revue passieren.
Sokolov hat das Purcell/Mozart Programm 2022/2023 etwa 70-mal live gespielt! Die für Sokolov typischen Zugaben stammen aus der Feder von Jean-Philippe Rameau (Les Sauvages, Tambourin), Frédéric Chopin (Prélude Op. 28/15, Mazurka Op. 63/2) und Johann Sebastian Bach (Prélude BWV 855, arr. in b-Moll von Alexander Siloti).
Dr. Ingobert Waltenberger