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CD: GORDON SHERWOOD COMPLETE SONGS VOL. I & VOL: II

Welt-Ersteinspielung des Liedschaffens eines Wanderers zwischen den Welten

24.06.2021 | cd

 

masha

CD: GORDON SHERWOOD COMPLETE SONGS Vol. I & II (Sonus Eterna)

Von Manfred A. Schmid

Gordon Sherwood, der große Außenseiter und Aussteiger unter den Komponisten der letzten hundert Jahre, hat sich vom offiziellen Kunstbetrieb jahrzehntelang bewusst ferngehalten. Als vagabundierender Lebenskünstler war er in aller Welt unterwegs und lebte einige Jahre sogar als Bettler in Paris. Nun, acht Jahre nach seinem Tod, wurde der gebürtige US-Amerikaner, der trotz der selbstgewählten widrigen Umstände nie zu komponieren aufgehört hatte, sondern sich selbstbewusst zeitlebens als Komponist verstand und ein Gesamtwerk von über 140 Werken hinterließ, in das Musiklexikon Komponisten der Gegenwart aufgenommen. Dass es dazu kommen konnte, ist nicht zuletzt der Pianistin Masha Dimitrieva zu verdanken, die noch zu seinen Lebzeiten in engem künstlerischem Austausch mit ihm stand, sich auch privat für ihn engagiert und so dazu beitragen hatte, dass er seinen Lebensabend in einer diakonischen Einrichtung in Bayern, bis zuletzt schöpferisch aktiv, verbringen konnte.  Vor allem aber war die aus Russland gebürtige Pianistin die erste, die nach Jahren absoluter Stille rund um den Komponisten dafür gesorgt hatte, dass seine Werke wieder- bzw. erstaufgeführt wurden und weiterhin werden.

Von Sherwood testamentarisch als Verwalterin seines künstlerischen Erbes eingesetzt, hat Dimitrieva es sich zum Ziel gesetzt, seine Werke in Einspielungen dem Publikum zugänglich zu machen. Dazu hat sie ein eigenes Label, Sonus Eterna, gegründet. Sherwoods komplettes Klavierwerk ist bereits erschienen: Im Online Merker wurde Sherwoods Piano Works Volume I & II bereits ausführlich vorgestellt. Nun ist auch die aus zwei CDs bestehende Einspielung seines Liedschaffens – The Complete Songs Volume I & II – herausgekommen. Mit der Sängerin Felicitas Breest hat Masha Dimitrieva für dieses Vorhaben eine kongeniale Partnerin gefunden. Breests Bühnenerfahrung, z.B.  als Polly in Weills Dreigroschenoper, sowie ihre solide Ausbildung im klassischen Liedgesang, u.a. bei Cheryl Studer, machen sie zu einer idealen Interpretin von Sherwoods Liedern im Spannungsfeld zwischen Blues, Mozart und Schubert. Sherwoods abwechslungsreiche Lieder, deren textliche Grundlagen allesamt aus eigener Feder stammen, überraschen nämlich durch die intensive Auseinandersetzung mit europäischen Liedtraditionen, die seine auch von amerikanischen Elementen geprägte Musik erweitern und gehörig in Schwingung versetzen. Auffallend ist, dass von seinem damaligen Lebensmittelpunkt – die insgesamt sieben Liederzyklen komponierte er, mit Ausnahme des ersten, vornehmlich im Libanon und in Kenia – kaum etwas in seine Lieder eingeflossen ist, was in dem einen oder anderen Instrumentalwerk hingegen durchaus der Fall ist. Bemerkenswert zudem, dass Sherwoods Beschäftigung mit dem Lied nur eine relativ kurze Zeitspanne – von 1967 bis 1976 – umfasst. Mag sein, dass das mit der in seiner unsteten Lebensweise zunehmenden Entfremdung von seiner Frau Ruth zusammenhängt, von der sich Anfang der 80er Jahre dann auch scheiden ließ. Sie, Sängerin von Beruf, dürfte wohl die erste Interpretin seiner Lieder gewesen sein. Als er sie aus den Augen verlor, kam ihm vermutlich auch seine Sängerin abhanden.

sherwoodsongs

Volume I

In Five Love Songs, op. 24, 1967 in Rom entstanden, wo Sherwood eben erst ein Musikstudium bei Goffredo Petrassi abgeschlossen hatte, ist – im Widerspruch zum Titel – von Liebe kaum die Rede. Vielmehr geht es um Enttäuschung, Angst, Bedrohung, Einsamkeit und Verzweiflung. Pentatonik irisch-keltischen Ursprungs, harsche, harte Klänge, spärliche atonale Einsprengsel und abrupte Rhythmusänderungen zeugen vom melancholischen, sprunghaften Charakter der Lieder. Überraschend kippt diese düstere Grundstimmung im abschließenden „In ev’ry Song There is a Dance“ ohne Übergang in das absolute Gegenteil. Die Gestaltung durch die Sopranistin Felicitas lässt offen, ob es sich dabei um eine Trotzreaktion à la „Jetzt erst recht“ handelt oder um eine tatsächliche, glückliche Fügung, die hier besungen wird. Wenn man aber den bald danach in Beirut entstandenen Liederzyklus Songs for the Winter heranzieht, der ganz unter dem Eindruck von Sherwoods Beschäftigung mit der Schubertlied steht, scheint Ersteres wohl naheliegender zu sein. Inhaltlich wie auch musikalisch ist dieser Zyklus jedenfalls eine Verbeugung vor Schuberts abgrundtiefer Winterreise. Jede der fünf Kompositionen ließe sich als Variation zu einem bestimmten Schubert-Lied festmachen, sowohl hinsichtlich der Melodieführung als auch des Klaviersatzes. Dass Breest mit Schuberts Winterreise bestens vertraut ist, spürt man in jeder Note. Masha Dimitrieva an Klavier agiert – wie könnte es bei Liedern in der Nachfolge Schuberts auch anders sein – als ebenbürtige Partnerin und nicht als bloße Begleitung.

Der drítte Zyklus, 1976 in Kenia entstanden, steht ganz im Zeichen von Sherwoods afroamerikanischer Prägung, die neben der profunden Kenntnis der westlichen Musik ein Grundpfeiler seines Schaffens ist. Wie bereits in seinem Klavierwerk, wo er mit Leidenschaft und hörbarem Vergnügen dem Blues und dem Boogie wichtigen Platz einräumt, wird seinem afroamerikanischen Erbe auch hier Tribut gezollt.  Die Five Blues Songs, op. 60 sind unbeschwerte, heitere Kompositionen aus der Welt des Blues, in die er durch aus der europäischen Operntradition entlehnte Elemente anreichert. Da schleichen sich z.B. unverhofft Koloraturen ein, die verdächtig nach Mozarts Königin der Nacht klingen. Felicitas Breest bewältigt diese Herausforderung stimmsicher und elegant. Dabei mag ihr zugutekommen, dass sie in Opernaufführungen tatsächlich schon die Königin der Nacht wie auch die Pamina gesungen hat. Ein gewisses Augenzwinkern gehört bei der Bewältigung solcher Herausforderungen natürlich dazu. In manchen Passagen fühlt man sich stark an George Gershwins Blues-Oper Porgy and Bess erinnert. Gordon Sherwood war nicht nur physisch ein ewiger Wanderer zwischen den Welten, er ist es auch als Komponist. Und diese extravagante Mischung macht zu einem Gutteil den Reiz seiner Kompositionen aus und definiert seinen – verschiedenste Einflüsse amalgamierenden – Personalstil.

Trotz seines gewiss nicht einfachen Lebens prägen schließlich immer wieder Humor und ein eigener Sinn für Komik Sherwoods Schaffen. Welcher Komponist käme sonst auf den Gedanken, einen Zyklus ausgertechnet den Errungenschaften der neuesten Mode zu widmen? Das ist – neben Eric Satie – wohl nur Gordon Sherwood zuzutrauen. Und siehe da: Mit sichtlichem Vergnügen und durchaus aus interessierter männlicher Perspektive besingt Sherwood in seinem op. 53 mit dem Titel Six Songs for Women’s Fashion of The 1960s den Minirock, Hot Pants und den einteiligen Bikini. In einem weiteren Lied mokiert er sich über die erotisch wenig attraktive Einführung der Maxi-Mode, ringt sich dann, im abschließenden und versöhnlichen Lied „Mixi“, aber zu dem großzügigen Zugeständnis durch, dass jede das tragen soll, was sie eben will. Masha Dimitrieva und Felicitas Breest lassen sich auf diesen Spaß voll ein. Hier Fragezeichen aus weiblich-feministischer Sicht zu setzen, wäre angesichts der Unbeschwertheit und der zum Teil ohnehin selbstentlarvenden Komik des Vorgetragenen fehl am Platz.

Volume II

Der Titel von Sherwoods op. 32 aus dem Jahr 1969, Four Romantic Songs, in Beirut entstanden, ist wortwörtlich zu nehmen und keinesfalls ironisch gemeint. Die pianistische Einleitung zu „Awakening“ ist purer Schumann, und das setzt sich auch in der weiteren Gestaltung des Liedes fort. Etwas irritiert von dieser spät-neoromantischen Musik, erinnert man sich an die an Mozart und Haydn angelehnten „klassischen“ Kompositionen in Sherwoods Klavierwerk, wo er ebenfalls keine Konfrontation mit der musikalischen Tonsprache der Wiener Klassik sucht, sondern wo es ihm eindeutig darum geht, so eng wie möglich innerhalb der musikalischen Konventionen jener Zeit zu bleiben. Klingt dort Sherwoods Mozart wie echter Mozart, ist Sherwood hier offensichtlich bestrebt, den Kosmos von Schumanns Liedern nicht zu verlassen und möglichst „originalgetreu“ zu bleiben. Kleine Abweichungen und Akzente inbegriffen, aber die gibt es ja auch schon bei Schumann. Statt sich mit der Musik seiner Zeitgenossen zu beschäftigen, von denen er sich abgekoppelt hat, sucht er den Dialog mit den alten Meistern, denen er trefflich nacheifert. Das gilt, in Abstufungen, auch für die übrigen Lieder aus diesem Zyklus. Während in Nordafrika politische Umstürze auf der Tagesordnung stehen und bürgerkriegsähnliche Zustände drohen, während in Europa und in den USA die 68-er Bewegung dabei ist, die bisherigen Verhältnisse zu hinterfragen und die Welt auf den Kopf zu stellen, wendet sich Sherwood der Natur zu, die er romantisch beschwört und besingt. Hier gibt es nichts zu hinterfragen. Auch deshalb nicht, weil der Textdichter dieser Lieder, Gordon Sherwood, leider kein Heinrich Heine ist.

Warum sich Gordon Sherwood total in diese Auseinandersetzung mit der Romantik stürzt? Man weiß es nicht. Und eigentlich ist das, worauf er sich hier einlässt, auch keine Auseinandersetzung, sondern eine Zusammensetzung, was eigentümlicherweise dem ursprünglichen Wortsinn des lateinischen componere entsprechen würde. Der musikhistorisch ins Treffen geführte Neoklassizismus bei Prokofiev und Stravinsky ist jedenfalls anders geartet und strebt eine Weiterentwicklung an. Sherwood hingegen klingt hier tatsächlich wie bester Schumann. Somit wirkt es wie aus der Zeit gefallen. wie ein unvermutet auftauchender Archiv-Fund. In feinster Romantik-Manier singt Breest die vier Lieder, mit glockenheller Stimme und in gediegener Phrasierung, und nimmt so, wie auch die Pianistin, die Kompositionen ernst. Jeder Versuch, bei dieser Welt-Ersteinspielung die Ernsthaftigkeit zu untergraben, wäre unpassend. Es ist eben alles so, wie ist – und was es ist.

Sherwoods rätselhaftes Verhaftetsein in einer zwar vertrauten, aber längst vergangenen Musiktradition begegnet man auch in dessen eher lose zusammengefügten Zyklus Seven Songs of Mother Nature, op. 46. Er entstand 1973 in Nairobi, Kenia, als in Europa die legendäre Denkfabrik „Club of Rome“ die Grenzen des Wachstums aufzeigte und vor der Gefahr des Baumsterbens warnte. Sherwood wendet sich, wie als eine Antwort darauf, den kleinen Wundern der Natur zu, den Glühwürmchen, dem Schmetterling, der emsig Honig sammelnden Biene, den Kirschblüten, den Sternen am Nachthimmel. Es sind duftige Liedchen, von zartem Überschwang. Ganz und gar wonniglich und zauberhaft. Auch hier hat man es mit einem kundigen Rückgriff auf alte Stilmittel zu tun. Die Tonsprache, die in diesen Liedern zur Anwendung kommt und frohe Urstände feiert, ist jene vom Ende des 19. Jahrhunderts, jener Jahre also, in denen Richard Strauss seine vielgesungenen, hochromantischen Lieder geschrieben hatte. Tatsächlich könnten „Das Abendlied“ und „Der Schmetterling“ aus der Feder des Meisters von Garmisch stammen, während „Die Biene“, vor allem in der Klavierbegleitung, deutlich auf Rimsky-Korsakows „Der Hummelflug“ verweist. Die beiden letzten Lieder aus diesem Zyklus entziehen sich dann etwas mehr den Vorbildern aus einer Zeit vor mehr als 80 Jahren. Dämonisch und eigenständig nimmt sich „Die Spinne“ aus, während der abschließende Hymnus an die Natur, „Man kann die Natur nicht überbieten“, ob seines etwas gestelzt wirkenden Texts offenbar nicht ganz ernstgenommen werden will, sondern ironisch gebrochen daherkommt, was im Übrigen zuvor z.T. auch für das Lied „Die Spinne“ gilt.

Den Abschluss bildet der im selben Jahr komponierte Zyklus Songs From My Childhood, ebenfalls in Nairobi entstanden und schon im Titel an Schumanns Kindeszenen erinnernd. Liebevoll und humorvoll widmet sich darin der Textdichter und Komponist prägenden Erfahrungen und Episoden aus der Kindheit. Betonte melodische Einfachheit und wiegende Rhythmen unterstreichen den erzählenden Charakter der Lieder, die z.T. aber durchaus  dramatische, melodramatische Zuspitzungen erfahren und auch kompositorische komplexere Entwicklungen beinhalten. Der Kehrvers, mit dem „Childhood Sweetheart“ anhebt und endet, hört sich an wie ein irischer Folksong in der Bearbeitung von Benjamin Britten, dazwischen eingebettet aber ist die traumatische Erfahrung von Kindern mit ihrer gewalttätigen Lehrerin. Die bedrohliche Atmosphäre im Lied „Haunted House“, vor allem im Klaviersatz angelegt, erinnert an Schuberts „Erlkönig“ sowie daran, dass Sherwood eine Zeitlang auch als Filmkomponist tätig war. „Christmas Eve“ erzählt von der hektischen Reiseaktivität des Santa Claus, der Kindern in allen Himmelsrichtungen Spielzeug, frohe Botschaften und Freunde bringen will, der aber rechtzeitig zurück in den Norden will, bevor es zu tauen beginnt. Wenn vom Osten die Rede ist, von dem aus die drei Weisen nach Bethlehem unterwegs sind, vernimmt man exotische, fernöstlich-orientalische Klänge. Der feierliche Hymnus „Easter Morning“ hat mit den Kindheitserinnerungen der vorhergehenden Lieder nichts zu tun, sondern ist eine Beschwörung des österlichen Mysteriums der Auferstehung, des Triumphs über den Tod.

Masha Dimitrieva und Felicitas Breest legen mit ihrer gelungenen Welt-Ersteinspielung sämtlicher Lieder von Gordon Sherwood einen weiteren Beleg für eine Neubewertung bzw. – und richtiger – für eine Ersteinschätzung dieses bis vor kurzem noch weitgehend unbekannt gebliebenen Komponisten vor. Hilfreich dabei sind auch die kenntnisreichen Einführungen von Ulrich Kahmann (Vol. I) und Norbert Florian Schuck (Vol. II) sowie die abgedruckten Texte und deren Übersetzung ins Deutsche in den beiliegenden Booklets. Um sich ein umfassendes Bild vom Komponisten machen zu können, fehlen noch sein kammermusikalisches Werk und seine Symphonien. Aber wer Masha Dimitrieva kennt, weiß, dass sie alle Hebel in Bewegung setzten wird, um ihre Entdeckungsarbeit fortsetzen zu können. Man kann darauf gespannt sein.

 

 

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