CD „GOLDBERG REFLECTIONS“, Bearbeitungen von J.S. BACHs Zyklus für Violine und Streichorchester und elf zeitgenössische Fortschreibungen – NIKLAS LIEPE und die NDR Radiophilharmonie; SONY
Zeitgenossen mit goldener Bachnase
Einschlafstörungen und ihre tönende Abhilfe, das stand angeblich an der Wiege zu den 1741 entstandenen sogenannten „Goldberg Variationen“. Seit den beiden bahnbrechenden Interpretationen des kanadischen Klaviergenies Glenn Gould zum zeitlosen Kult(urgut) geworden, sollten diese „Clavier Ubungen, bestehend in einer Aria mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“ der „Forkel-Legende“ nach für den russischen Gesandten am Dresdner Hof, Graf Hermann Carl von Keyserlingk, verfasst worden sein. Des Grafen junger Cembalist, Johann Gottlieb Goldberg (er war 1741 knapp 14 Jahre alt), soll daraus zu jeder erdenklichen Tages- und Nachtzeit zur Aufheiterung des Chefs exerziert haben. Ob das alles stimmt, ist nicht erwiesen, entsprechende Widmungen und Zeugnisse sind nicht vorhanden.
Was musikgeschichtlich jedoch nicht von der Hand zu weisen ist, dass ab dem 19. Jahrhundert Komponisten sich immer wieder diese Variationen vorgenommen haben und die zwischen virtuos wie Scarlatti bis großartig meditativ wirkenden, zumeist Tänzen nachempfundenen Sätze bearbeitet, für unterschiedliche Besetzungen arrangiert bzw. in die eben jeweils vorherrschende Musiksprache transferiert haben. Rheinberger, Busoni, Reger gehören dazu, aber auch Uri Caine oder sogar Karlheinz Essl.
Das vorliegende Doppelalbum enthält 15 der 32 Teile (Aria, 30 Variationen, Aria da capo è fine), in Bearbeitungen für Violine und Streichorchester von Andreas N. Tarkman (Aria, 1, 7, 8, 9, 10, 13, 16, 19, 21, 22, 25, 29, 30) sowie 16 neue Auftragswerke aus der Feder von elf verschiedenen Komponisten und Komponistinnen. Auftraggeber und Geiger Niklas Liepe setzt damit die mit dem Album „The New Paganini Projekt“ erstmals konkretisierte Idee der ‚musikalischen Zeitbrücken‘ erneut um.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die CDs lohnen sich in erster Linie wegen der überaus kreativen, teils spektakulär spannenden Neukompositionen. Tarkmans Bearbeitungen des Originals kleben trotz mitunter gepflegten Schwungs und guten Willens allzu sehr an der historischen Vorlage, wobei der Streicherklang im Gegensatz zu Cembalo oder Klavier noch dazu wie ein in meinen Ohren seltsam unpassender Weichzeichner wirkt. Einen Zugewinn an Perspektive oder Licht auf das Meisterwerk sehe ich dabei nicht.
Dafür zeigen die „Neuen“ Ecken, aufregende Neusichten und Mut. Vor allem die Vielfalt der Eingebungen, Herangehensweisen und freien Ansätze macht Staunen. Gleich Rolf Rudins „Dialog with Bach“ verzaubert mit rhythmischen Drehungen und dem Appell, die Schönheit der Welt zu schauen, während Sidney Corbett in seinem „Goldberg Halluzination Remix“ in ineinander geschachtelten Klangwolkentürmen die verwirrende, undurchdringbare Vielfalt der Gegenwart beäugt. Des Arrangeurs Andreas N. Tarkmans eigener Beitrag zum Album heißt „Goldberg‘s last summer“. Mit Soloklavier (Niels Liepe) aufgepeppelt, funktioniert dieser neoklassizistische Versuch à la Stravinsky bestens und erzielt in seinem konservativen, gut geschnittenen Anzug die intensivste Annäherung an den Ursprung.
Dominik J. Dieterle mit dem rastlos motorisch drängenden „Sleepless after J.S. Bach“, Wolf Kerscheks impressionistisch leuchtende „Goldberg Reflections Aria“ und Moritz Eggert mit den „Vier Variationen aus ,Goldberg Spielt‘„ umkreisen das Thema mal somnambul sphärisch, mal arios jazzig, mal feinmechanisch manisch. Daniel Sundy mit dem die vier Teile ,Heaven or Hell‘, ,The Elements‘, ,The Moocher‘ (Anm.: = Schnorrer) und ,Metal Quodlibet‘ in den von der Violine in E-Gitarren Sound hüllenden “New Goldberg Variations“ und Tobias Rokahr mit einer lauteren Annäherung an das Thema Schlaflosigkeit in „Sleepless (Goldberg goes crazy)“ haben ebenfalls ihr Goldberg-Fernglas auf scharf gestellt.
Friedrich Heinrich Kern nennt sein mit Glasharfe verstärktes Werk für Streichorchester „Reflectios on a dream“, während der Wiener Stephan Koncz, Cellist der Berliner Philharmoniker, den mythischen „GoldBergHain“ beschwört. Lateinamerikanische Rhythmen, Folklore und wilder chaotischer Clubstyle verbünden sich hier zu einem genussreichen Sound. Die griechische Komponistin Konstantia Gourzi will mit den „Lullabies for three flowers“ sensibilisieren für Respekt und Mitgefühl der Schöpfung gegenüber. Die Natur nicht zu zerstören, sondern sie zu bewundern, achtsam mit ihr umzugehen und dabei wahrzunehmen, wie wichtig und notwenig sie für uns ist, auch mit ihrer Schönheit, ist ein außermusikalisches Statement, das bestens als krönender Abschluss des Projekts passt.
Geiger Niklas Liepe bringt das vielschichtig mondsüchtige Umkreisen der Sonne ,Bach‘ mit umsichtigen Bedacht auf traumverhangenen Klang und das Spannen möglichst weit gestreckter Annäherungskurven zum Rocken. Die NDR Radiophilharmonie und der Dirigent Jamie Phillips sind kumpelhaft gelaunte Reisepartner auf Augenhöhe.
Dr. Ingobert Waltenberger