CD GIUSEPPE VERDI: SIMON BOCCANEGRA VERSION 1857; Opera Rara
Lohnend: Erste Einspielung nach der kritischen Edition 2021 von Roger Parker
„Die Fassung von 1857 stellt in vielerlei Hinsicht eine wichtige Etappe in Verdis Entwicklung in dieser Zeit dar, in der er den Weg von seiner berühmten „Trilogie“ aus der mittleren Periode zum internationalen Stil der späteren Werke einschlug. Wenn diese neue Ausgabe eine solche Neubewertung fördert und dabei einige von Verdis überzeugendsten musikalischen Experimenten der 1850er Jahre enthüllt, hat sie ihren Zweck erfüllt.“ Roger Parker
Verdis Tragedia lirica „Simon Boccanegra“ in einem Prolog und drei Akten nach einem Libretto von Francesco Maria Piace feierte am 12.3.1857 im Teatro La Fenice in Venedig ihre Premiere. Zwischen „Les Vêpres siciliennes“ und „Un ballo in maschera“ entstanden, kennen wir von dieser düsteren Genueser Oper jedoch hauptsächlich die für die Mailänder Scala revidierte Fassung von 1881, die sich durchgesetzt hat und heute zum Standardrepertoire großer Häuser gehört. Demnächst steht eine Serie in der Berliner Staatsoper Unter den Linden auf dem Programm.
Einer der Gründe, warum Verdi manche seiner Opern einer Überarbeitung unterzog, lag simpel und einfach darin, dass mit ihnen in ihrer ursprünglichen Form kein Geschäft mehr zu machen war und Verdi daher, ermutigt durch den Verleger Ricordi, Teile der Musik und die Dramaturgie den fortgeschrittenen persönlichen Entwicklungen und zuweilen einer bestimmten politischen Resonanz anpasste.
Die ursprüngliche Rezeption samt ihren Ursachen müssen uns heute, wie Roger Parker, Opera Raras Repertoireberater, in seinem Booklet Beitrag ergänzt, nicht unbedingt in unserem Urteil beeinflussen. Dass das venezianische Publikum in den 50-er Jahren des 19. Jahrhunderts nicht immer das schätzte, was wir heute lieben, lässt sich vorzüglich mit der 1853 bestenfalls lauwarm begrüßten „La Traviata“ belegen. Es darf zudem nicht außer Acht gelassen werden, dass Verdi schon für die Inauguration des Teatro Municipale in Reggio Emilia, ebenfalls 1857, Änderungen der beim Publik damals nicht gut aufgenommenen Oper vornahm.
Die nun von Opera Rara in Manchester aufgenommene erste Fassung von „Simon Boccanegra“ stützt sich auf erst seit wenigen Jahren zugängliche originale handschriftliche Partituren Verdis. Parker: „Alle bisherigen Versionen haben ihren Notentext aus einer frühen Ricordi-Gesangspartitur und verschiedenen Manuskriptkopien abgeleitet. Letztere geben die von Verdi geschriebenen Noten recht zuverlässig wieder; in Bezug auf Dynamik, Phrasierung und andere wichtige Aspekte der Artikulation sind sie jedoch nur ungefähr. Die autografen Materialien stellen somit eine reichhaltige neue Quelle dar, die uns zum ersten Mal die Möglichkeit bietet, Verdis reichhaltige und detaillierte musikalische Anweisungen zu sehen.“
Insgesamt wirkt diese Originalfassung, von der ungefähr die Hälfte an Musik in diejenige von 1881 eingeflossen ist, schlanker in der Instrumentierung, mit einem vergleichsweise deklamatorischeren Gesangsstil. Natürlich kann sich das heutige Publikum der zwingenden Wucht und unvergleichlichen Dramatik etwa des neuen Finales des ersten Aktes nicht entziehen. Aber als Alternative zu all den hervorragenden „1881“-Versionen auf „Platte“ ist die sorgfältige Studioproduktion vom April 2024 auf jeden Fall ein Kennenlernen und mehr als ein bloßes musikhistorisches Interesse wert.
Zumal Sir Mark Elders, der von 2011 bis 2019 selbst der künstlerische Leiter von Opera Rara war, letzter (Studio-)Streich als Musikdirektor von The Hallé sowohl von der Besetzung her als auch durch sein kenntnisreiches, sehnig dramatisches, knackiges Verdi-Idiom sehr viel zu bieten hat.
Vor allem die Besetzung der vier Hauptpartien mit dem dunkelsamtig-vollstimmigen argentinischen Bariton Germán Enrique Alcántara in der Titelrolle, der vokal eher fragilen, aber durchaus passionierten japanischen Sopranistin Eri Nakimura als dessen Tochter Amelia, dem kernigen peruanischen Spintotenor Iván Ayón-Rivas als ihrem Geliebter Gabriele sowie dem vom exquisiten Timbre her ein wenig Ghiaurov-liken britischen Bassisten William Thomas als Fiesco überzeugt nicht nur, sondern lässt jedes Melomanenherz höher schlagen. In den übrigen Rollen machen Sergio Vitale als Paolo Albiani, David Shipley als Pietro und Beth Moxon als Amelias Dienerin einen seriösen Job.
Manchesters Hallé Orchester zeigt sich zum Abschied für Elder in Top-Form (Sonderlob für das Holz). Der Chorus of Opera North und der RNCM Opera Chorus tragen mit ihrem technischen Können und ihrem stilsicheren Professionalismus zur atmosphärischen Dichte und zum generellen Gelingen der Aufnahme bei.
Fazit: Interessante Fassung in mustergültiger Interpretation voll stimmlich reizvoller Entdeckungen. Versäumen Sie nicht Sir Mark Elders großartigen und würdigen The Hallé Abschied!
Dr. Ingobert Waltenberger