Die verborgene Welt des Tanzes: Verdis vollständige Ballettmusiken neu entdeckt
Die opulente Musiksprache Giuseppe Verdis ist jedem Opernliebhaber vertraut, doch seine Ballettmusiken führten lange ein Schattendasein. Nun veröffentlicht BR Klassik die vollständigen Ballettmusiken Verdis in einer Aufnahme des Münchner Rundfunkorchesters unter der Leitung von Ivan Repušić. Diese Sammlung offenbart eine bislang wenig beachtete Facette des Komponisten und rückt die Tanzeinlagen, die für die Pariser Aufführungen seiner Opern unverzichtbar waren, in den Mittelpunkt des Interesses.
Verdi war kein Freund des Balletts – und dennoch führte die französische Operntradition dazu, dass er für mehrere seiner Opern eigene Ballettmusiken komponierte. Die Pariser Opéra verlangte von jedem Werk, das dort aufgeführt wurde, eine Tanzeinlage im dritten Akt – eine Verpflichtung, der sich auch Verdi fügen musste. Zwischen 1847 und 1894 entstanden so insgesamt sieben Ballettmusiken für seine Werke „Jérusalem“, „Les vêpres siciliennes“, „Le trouvère“, „Macbeth“, „Don Carlo“, „Aida“ und „Otello“. Die Aufnahme auf BR Klassik umfasst diese Raritäten und bietet einen farbenreichen Einblick in Verdis kompositorisches Können abseits seiner berühmten Opernszenen.
Die Ballettmusik für „Les vêpres siciliennes“ mit ihrem berühmten „Les quatre saisons“ ist eine der ausgedehntesten und zeigt Verdis Fähigkeit, musikalische Erzählungen mit üppiger Orchestrierung und lebendiger Rhythmik zu verbinden. Hier findet sich eine plastische Klangsprache, die jedem der Jahreszeiten ein eigenes charakteristisches Profil verleiht. Für „Jérusalem“ hat Verdi eine weitere umfassende Ballettsuite geschrieben, die die Klangmalerei und dramatische Gestik der Oper gekonnt aufgreift.
Einen besonderen Stellenwert nimmt die Ballettmusik für „Le trouvère“ ein, da sie musikalisches Material aus den Zigeunerszenen verwendet und dramaturgisch eng mit der Handlung verknüpft ist. Verdi nutzte das tänzerische Element, um die emotionale Tiefe und Spannungen in der Oper zu verstärken.
In „Macbeth“ entführt uns die Musik in eine düstere Welt, wo Verdi die Hekate-Szenen von Shakespeares Drama aufgreift. Die Musik zeichnet sich durch eine dramatische Intensität aus, die den Geist des Bösen und des Übernatürlichen eindrucksvoll einfängt.
Die Tänze in „Don Carlo“ sind zwar weniger bekannt, bieten jedoch in „La Pérégrina“, einem Ballet de la Reine, ein elegantes Intermezzo, das den Glanz der spanischen Krone musikalisch illustriert. Verdi zeigt hier seine Fähigkeit, Feierlichkeit und Pracht durch Tanzmusik zu vermitteln, ohne die Tiefe seiner dramatischen Intentionen zu verlieren.
Die Tänze in „Aida“ sind zweifellos die bekanntesten unter Verdis Ballettkompositionen, nicht zuletzt dank ihrer auffallenden Integration in die Handlung. In der Pyramiden-Szene zeigt sich Verdis Meisterschaft, dramatische und choreografische Elemente zu einem größeren Ganzen zu verweben.
Abgeschlossen wird die Sammlung mit der kürzesten und wohl exotischsten Ballettmusik für „Otello“, die mit ihren orientalischen Tänzen eine klanglich dichte Atmosphäre erzeugt.
Das Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušić erweckt diese Raritäten mit Brillanz und stilistischer Treue zum Leben. Die pointierten Rhythmen, die schwungvollen Melodien und die klangmalerischen Effekte der Ballettmusiken kommen in dieser Aufnahme bestens zur Geltung. Repušić versteht es trefflich, die farbenreiche Instrumentation herauszuarbeiten und jedem Werk seinen eigenen Charakter zu verleihen. Seine differenzierte Lesart lässt sowohl die lyrischen als auch die dramatischen Passagen klar hervortreten, ohne dabei an tänzerischer Leichtigkeit zu verlieren.
Das Orchester spielt mit Präzision und Einfühlungsvermögen, betont die rhythmische Vielfalt und die orchestralen Farben, die Verdi meisterhaft einsetzt. Besonders beeindruckend ist der Detailreichtum der Darbietung, der das Hörerlebnis zu einer wahren Entdeckungsreise macht. Die klangliche Balance zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen ist hervorragend, und die feinsinnige Interpretation unterstreicht Verdis musikalischen Ideenreichtum.
Diese Doppel-CD ist ein gelungenes Dokument für alle Verdi-Liebhaber und Freunde der Ballettmusik. Die Wiedergabe der kompletten Ballettmusiken bietet die seltene Gelegenheit, Verdi aus einer neuen Perspektive zu erleben – fernab der großen Opernszenen, aber dennoch mit all der dramatischen Tiefe und orchestralen Fülle, die seine Werke auszeichnet. Eine mitreißende Doppel-CD, kurzweilig und voller Lebensfreude.
Dirk Schauß, im November 2024
Giuseppe Verdi
Ballettmusiken
Münchner Rundfunkorchester
Ivan Repušić, musikalische Leitung
BR-Klassik 900341