CD GIUSEPPE GAZZANIGA: L’ISOLA D’ALCINA – Weltersteinspielung dieser zündenden Opernsatire in der Wiener Fassung 1774; DHM
Die seit 800 Jahren tot geglaubte Alcina, ihre zwei Dienerinnen und fünf auf der Zauberinsel gestrandete Jungs aus Italien, Spanien, Frankreich, England und Deutschland versammeln sich zu einer flotten Opera buffa
Veröffentlichung: 8. September
Alcina, das war doch die lasterhafte, verführerische Schönheit, die wir vor allem durch Händels gleichnamige Oper, die wiederum auf einer Episode von Ludovico Ariostos Epos „Orlando furioso“ (aus dem Jahr 1532) basiert, kennen. Sie kann für hormongesteuerte Männer ganz schön gefährlich werden, sie verzaubern und bei Überdruss in wilde Tiere verwandeln.
In Gazzanigas Dramma giocoso per Musica „L’isola d’Alcina“, die ihre Premiere 1772 in Venedig am Teatro San Mosé feierte, hat Librettist Giovanni Bertati die Handlung flux ins 18. Jahrhundert verlegt und aus dem tragischen Mythos eine kluge Opernsatire geschaffen. Unsere famosen Helden, befreundete Abenteurer aus Italien (Brunoro), Frankreich (La Rose), England (James) und Spanien (Don Lopes) – der Deutsche Baron von Brikbrak stößt im zweiten Akt hinzu – kennen die unheilvolle Geschichte der Zauberin. Dennoch verfallen sie fürs Erste, trotz eines Schwurs, sich nicht in Alcina zu verlieben, ihrem zeitlos-erotischen Schein und magischen Kräften.
Als ersten erwischt es La Rose, der wohl zu viel von dem sonderlichen Wasser aus Alcinas wundersamen Brunnen trinkt, dessen Genuss Vergessenheit schenkt und die Melancholie vertreibt. Aber eins zu viel von dem stimmungsaufhellenden Saft und der blanke Wahnsinn trifft den Unachtsamen. Keine Sorge: In unserer Opera buffa heilt die diesmal gnädige Alcina den Gierigen mit einem venezianischen Lied von dem Furor. Dieser Zauber überzeugt auch die restlichen drei und sie lassen ihre Vorsicht fallen. Allerdings müssen sie sich einer strengen Prüfung unterziehen.
Aber auch die Dienerinnen Clizia und Lesbia sind nicht blind. Clizia will den feschen Spanier, Lesbia den nicht minder aufregenden Italiener. Der neu angekommene Baron Brikbrak stopft sich Wachs in die Ohren und tropft sich Fledermausblut in die Augen, um gegen die Reize Alcinas immun zu sein. Da sich Alcina mit James langweilt, wirft sie ein Auge auf La Rose. Im Schlafzimmer schneidet der Baron auf den hinterhältigen Rat Lesbias hin Alcina den Zopf ab und kupiert so ihre Zauberkräfte. Alle fünf Männer inkl. Clizia und Lesbia können nun in einem Schiff das Weite suchen. Da hilft kein Drachenwagen und kein Rachetoben mehr, die alternde Schöne bleibt mit schwindendem Zauber alleine zurück. Leid könnte sie einem tun, wenn Alcina weinend und wehklagend zuletzt damit droht, dass sie die Wale rufen werde, um die Schiffbrüchigen zu verschlingen.
Eine typische humorig-tiefgründige Versuchsanordnung des Gespanns Gazzangia – Bertati, könnte man sagen. Giovanni Bertati der auch das Libretto zu Gazzanigas Oper „Don Giovanni o sia il convitato di pietra“ schuf, das wiederum die Vorlage für Da Pontes und Mozarts „Don Giovanni“ bildete, war ein gefinkelter Komödienschreiber für die venezianische Theaterwelt. Gazzaniga schrieb über 60 Opern, dazu Instrumental- und Kirchenmusik, die in den venezianischen Archiven ihrer Entdeckung harren.
Das Alte Musik-Orchester l’arte del mondo und ihr Leiter Werner Ehrhardt haben sich nun erstmals im Rahmen der gemeinsam mit Bayer Kultur ins Leben gerufenen Initiative „Opern aus den Archiven der Welt“ mit Giuseppe Gazzanigas Opernsatire „L’isola d’Alcina“ bei deutsche harmonia mundi auseinandergesetzt.
Der Live-Mitschnitt aus dem Bayer Erholungshaus Leverkusen vom September 2022, in Koproduktion mit dem WDR publiziert, wird sängerisch von der Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli als nuancenreich-vielschichtige Alcina angeführt. Aber auch die anderen Protagonisten, vor allem Enrico Iviglia als in der Auftrittsarie standes- und landesgemäß tenorale virtuose Koloraturen abfeiernder Brunoro, der französische, Schubert-affine Tenor Kaëlig Boché als verwegener La Rose, der Bariton Florian Götz als italienisch radebrechender Baron von Brikbrak, der qualitätsvoll timbrierte englische Tenor Wallace William als James und Jose Antonio Lopez als heißblütiger Don Lopes tun alles, um den vom Librettisten und Komponisten vorgelegten Überzeichnungen der nationalen Charaktere nichts schuldig zu bleiben. Überdreht und flott in ihren Rollen agieren auch Alice Maddedu als Lesbia und besonders die Altistin Margerita Maria Sala als männerverzehrende Clizia.
Giuseppe Gazzanigas Partitur ist eine Wunderkammer an markanten Melodien, in liebevoll karikaturaler Manier gewendet und gedreht. Sie changiert zwischen virtuoser Arienpracht und rezitativischer Scharfzüngigkeit. Auf jeden Fall nimmt sie ihre barocken Vorgängervertonungen allesamt auf den Arm. Die Musik zündet ein Feuerwerk an lautmalerischen Einfällen und instrumentalen Finessen. Gazzaniga hat mit den Finali meisterliche, die Figuren prägnant zeichnende, temporeiche Ensembleszenen gestrickt, die sich mozartisch in „Cosí fan tutte“-Verirrungen und -wirrungen zu wälzen scheinen, nur dass Mozarts pessimistische Deutung von Liebe und Treue 1789/90 ihre Urständ feierte, also 17 Jahre nach der Uraufführung von „L’Isola d’Alcina“. Mit der Figur der Alcina erhebt Gazzaniga sein Werk über eine herkömmliche musikalische Komödie hinaus, weil diese Figur in differenzierter Seelen- und Tonlage Wut und Kummer, Überdruss und Verzagen, Rache und drohende Einsamkeit auszudrücken vermag. Alcina bringt es auf den Punkt, als sie im Finale zwei den Baron anklagt: „Anime ingrate! E dove andar volete? Ah, Barone! Ah! Sentite. Io nel mio tetto v’accolgo tutta affetto: altro non cerco che rendervi felice; e Voi non solo m’involate la pace, ma venite a recarmi tutto il male, che recare mi possa uomo mortale!“.
Tja, das Spiel der Geschlechter in erotischer Wankelmütigkeit ist bisweilen ein brutales und das Gleichnis der Verwandlung abgelegter Liebhaber und bisweilen auch verlassener Partnerinnen in wilde Tiere von zeitloser Gültigkeit. Dass die ganze verfahrene Chose, einmal von einer augenzwinkernden Warte aus betrachtet, durchaus befreiend wirken kann, verdanken wir hier dem furios wie differenziert sachwaltenden Werner Ehrhardt und seinem farbenirisierend aufspielenden Orchester l’arte del mondo. Gemeinsam mit dem gut gecasteten, spielfreudigen und textsicheren Ensemble können wir uns verblüfft an dieser gelungenen Weltersteinspielung, die uns dazu einen erstaunlich originellen und wegweisenden Komponisten zeigt, delektieren. Auf dass diese schöne Aufnahme zahlreiche Melomanen erreichen möge!
Dr. Ingobert Waltenberger