CD GIOACHINO ROSSINI „L’ITALIANA IN ALGERI“ – Live Mitschnitt vom Februar 2022 aus dem Amsterdamer Concertgebouw; Glossa
Abseits aller Bedeutungsschwere: Die Musik zu dieser spritzigen opera buffa „lässt uns alles Elend der Welt vergessen“ Stendhal
Das 1813 am venezianischen Teatro di San Benedetto mit triumphalem Erfolg uraufgeführte Dramma Giocoso war Rossinis zehnte Oper. Obwohl erst 21 Jahre jung und ganz schön keck, setzte der Schwan aus Pesaro mit der meisterlichen, ersten abendfüllenden Buffa „L’Italiana in Algeri“ Maßstäbe für flott Unterhaltsames auf vokal alle Sinne kitzelndem Niveau für sich selbst, aber – wie die Musikgeschichte zeigt – auch für die Zukunft der Oper.
Einige Monate nach dem „Tancredi“ entstanden, blieben dem Schnellschreiber Rossini nach Auftragseingang nur vier Wochen, um das in der „Alla Turca“ Tradition auf ein bereits bestehendes Libretto von Angelo Anelli geschriebene Werk abzuliefern. Die Handlung dreht sich um die Befreiung eines geliebten Mannes aus der algerischen Gefangenschaft durch eine starke Frau. Mit Isabella hat Rossini eine jener emanzipierten und raffinierten Frauenfiguren geschaffen, die es der brustgeschwollenen Männerwelt mit weiblichem Charme und mutiger Beherztheit so richtig zeigen. Im Gegensatz zum „Fidelio“ muss sie sich dafür nicht als Mann verkleiden. Für die Interpretation der Titelfigur gesucht ist vor allem eine Koloratur-Altistin von Gnaden, wie sie auch für die Rosina in „Il barbiere di Siviglia“ oder Angelina in „La Cenerentola“ benötigt wird.
In Amsterdam sang diese anspruchsvolle Partie zwischen schlauem Durchblick, heroischem Sentiment und situativer Komik, die einst zum Glanzrepertoire von Edel-Mezzos wie Simionato, Berganza, Horne oder Baltsa gehörten, Vasilisa Berzhanskaya. Derzeit in Wien als Angelina auf der Bühne, nennt die junge Russin einen präzise geführten, in allen Lagen gleichermaßen ansprechenden, klangschönen Mezzo ihr eigen. Berzhanskayas Vortrag, der ausgedehnte Legato Phrasen in vielen Piano Abschattierungen (Arie „Per lui che adoro“) genau so eindrucksvoll zu spinnen weiß, wie sie alle Verzierungen in den in wahnwitzigem Tempo gesetzten Ensembles zu absolvieren vermag, folgt ausgefeiltester Belcanto-Manier. Allerdings bedingt ihr noch zu sehr „nach Schule“ inszenierter Gesang, dass sie dem Publikum das Letzte an Ausdruck und stimmlicher Entäußerung schuldig bleibt. Das manifestiert sich etwa in einer sehr vorsichtigen Wiedergabe des berühmten Rondos mit Chor „Pensa alla patria“ im zweiten Akt. Die erste Begegnung mit dieser interessanten Stimme auf Tonträgern macht aber Lust auf mehr, die behutsame Entwicklung dieser Sängerin könnte sich lohnen. Rein gesangstechnisch ist sie jetzt schon über jeden Makel erhaben. Die Welt der Oper könnte eine neue Diva gut vertragen.
Wenn nur die Musik maßgeblich ist, ginge der Aufwand, den sie treibt, um ihren tenore contraltino Lindoro in einer spektakulären Flucht aus den Klauen des Beys von Algier, Mustafa, zu lösen, zu weit. Mustafa will seine mittlerweile ungeliebte Frau Elvira an seinen italienischen Sklaven Lindoro loswerden. Dafür soll Haly dem alten Lüstling eine knackige Italienerin vermitteln. Wie es in dieser turbulenten, an temperamentvoller Absurdität und herrlichem Nonsens unübertrefflichen Komödie weitergeht, ist in jedem Opernführer nachzulesen.
Die Besetzung der vorliegenden Aufnahme ist vor allem in den Männerstimmen trefflich. Der seit 2017 als Tenor zum Rossini Himmel aufsteigende britisch-australische Alasdair Kent nutzt seine Arien, um wie einige seiner berühmten Vorgänger mit stupender Leichtigkeit, feuerwerksreifen Koloraturen (Kavatine „Languir per una bella“), bzw. im köstlichen Duett mit Mustafa („Se inclinassi a prender moglie“) oder dem großen Quintett (Elvira, Isabella, Lindoro, Taddeo, Mustafa – „Ti presento di mia man“) mit sehr guter Artikulation, Präsenz und Präzision zu überzeugen.
Der inzwischen auf Buffo-Rollen spezialisierte Chilene Ricardo Seguel nutzt als bis zur völligen Idiotie Testosteron geleiteter Mustafà allen Sprachwitz und die urwüchsige Komik seiner Rolle, um seinen flexiblen Bass-Bariton bestmöglich zur Geltung zu bringen. Wie einst Ruggero Raimondi kann Seguel mit markanter Artikulation die Wirkung seines qualitätsvoll timbrierten Basses noch erheblich steigern. Schon nach seiner Auftrittsarie „Già d’insolito ardore“ wird Seguel bejubelt. Seine üppigen komischen Talente kann er in der bekannten Szene voll ausspielen, in der Isabella ihn in den Stand eines „Pappataci“ („Vielfraß“) erheben will. Der hätte in seinem „bedeutsamen“ Amt ja nichts weiter zu tun, als zu essen, zu saufen und zu schlafen. Freilich hauen die forschen Italiener während der ersten ausgiebigen Verdauungszeit ab. Genial vorweggenommener Dadaismus pur.
Mindestens genauso gut gefällt der spanische Spielbariton Pablo Ruiz als Taddeo, der sich mit Isabella per Schiff aufmachte, um Lindoro zu suchen. Besonders im über sieben Minuten langen Duett mit Isabella im ersten Akt „Ai capricci della sorte“ agiert er voller feiner Ironie und mit detailreich differenzierten, am Text orientierten Ausdrucksvermögen. Bis in die leicht anspringende Höhe klingt die farbenreiche Stimme kulinarisch ergiebig, kurzum gschmackig wie Vanillecreme. Die Meisterkurse bei Renato Bruson dürften sich ausgezahlt haben.
Lilian Farahani als Elvira (Sopran), Esther Kuiper als Zulma (Mezzo) sowie José Coca Loza als Haly ergänzen das Ensemble in stilvollendeter Belcanto Art. Vor allem im ersten turbulenten Finali „Viva, viva il flagel delle donne“ zeigen sie mit viel ‚fa din din‘ und ‚fa tac tá‘ in Kombination mit dem Mustafàschen ‚fa bum bum‘ sowie dem ‚fa crà crà‘ Taddeos ihre sprühende Musikalität und vokale Bravour.
Das von Frans Brüggen and Lucy van Dael vor über 40 Jahren als Spezialorchester für Alte Musik gegründete Orchestra of the Eighteenth Century unter der animierten Leitung von Giancarlo Andretta überzeugt gerade als Opernorchester mit historisch informiertem Bogenstrich und pointierter Artikulation. Da ertönen die Ouvertüre und die strettaschmissigen Aktschlüsse schroffer und herber, als das bei Einspielungen mit modernem Instrumentarium der Fall ist. Das erweist sich, was das Moussieren und Glitzern der Musik anlangt, als durchaus interessante und vor allem zeitgemäß ansprechende Variante. Auf jeden Fall bereitet es eine fast diebische Freude, der gut geprobten Aufführung wiederholt zu lauschen.
Wie auch immer Ihr Wohlbefinden in diesem grau feuchtkalten Winter sein mag, diese Rossini-Einspielung holt Ihnen Sonne ins Herz und Vitamin D ins Gemüt. Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger