CD GIOACCHINO ROSSINI „Moïse“ – Liveaufnahme aus der Trinkhalle Bad Wildbad 2018; NAXOS
Von Rossinis 1818 für das Teatro San Carlo in Neapel komponierte und 1819 dort uraufgeführte „Azione tragica-sacra – Mosè in Egitto“ gibt es eine zweite, für Paris 1827 erarbeitete Fassung in französischer Sprache mit dem Titel „Moise et Pharaon“. Eine echte Grand Opéra in vier Akten, monumental mit vielen Chören, effektvollen Arien, zu Herz gehenden Gebeten und gewaltigen Ensembles.
Leider ist der Opernfreund bei der aktuellen Diskographie auf Live-Mitschnitte angewiesen, die einzige klangtechnisch zufriedenstellende, längst vergriffene Studioproduktion (neben der historischen Rai-Aufnahme unter Tullio Serafin 1956) hat Philips Classics herausgebracht, mit Ruggero Raimondi, June Anderson, Ernesto Palacio und Siegmund Nimsgern in den Hauptrollen. Sie stützt sich ist die kritische Version von 1819 und wurde mit den Kräften des Philharmonia Orchestra unter Claudio Scimone realisiert.
Für das Label Naxos stellt das nunmehr aus dem Jahr 2018 stammende Audiodokument bereits die zweite Publikation des „Moses“ von Rossini aus Bad Wildbach dar. Die Aufführung 2006 in der neapolitanischen Version von 1819 konnte mit der Beteiligung des Württembergischen Philharmonischen Orchesters unter Antonio Fogliani punkten. Die Premiere aus dem Jahr 2018 in der späteren, stärker oratorienmäßigen Pariser Fassung stützt sich auf den Gorecki Kammerchor Krakau und die Virtuosi Brunensis unter der musikalischen Leitung von Fabrizio Maria Carminati. Die Interpretation des Dirigenten ist flott, voller Brio und spannungsgeladen, ein hochdifferenziertes dramaturgisches oder dynamisches Konzept ist allerdings nicht auszumachen. Der polnische Chor enttäuscht schon anfangs mit undifferenzierter Lautstärke und platter Stentorattitüde (Tenöre) und auch das Orchester (Blech) verwöhnt das Opernohr nicht gerade mit einem Dauer-Luxusklang.
Die Besetzung wird den extremen Anforderungen der Partitur durchaus gerecht, wenngleich vor allem bei der in der Mittellage saftig klingenden Elisa Balbo in der langen (ursprünglich von Colbran verkörperten) Rolle der Anai einige unangenehm scharfe Spitzentöne zu registrieren sind. Die Tessitura liegt diesem üppigen Spintosopran einfach zu hoch. Ich bin überzeugt, dass die Desdemona (Otello von Verdi) oder Alice Ford (Falstaff) ihr besser liegen. Sehr Erfreuliches ist über den amerikanischen Tenor Randall Bills als Aménophis zu bestellen. Als geeichter Händel- und Rossini- Interpret ist er koloratur- und stratosphärensicher, verfügt über eine markant timbrierte, bestens fokussierte Mittellage und schmetternde Spitzentöne. Sein Duett mit Pharaon im zweiten Akt zählt zu den Höhepunkten der Albums. Der weißrussische Bass Alexey Birkus kann als tauglicher Titelinterpret gelten, seine schlank, bisweilen eng geführte Stimme kann mit legendären Vorgängern wie Rossi-Lemeni, Ghiaurov oder Raimondi nicht mithalten. Die zweite wichtige Basspartie des Pharaon wird von Luca Dall-Amico mit beeindruckender Autorität gesungen. Der Scotto-Schülerin und schon im dramatischen Verdi-Fach beheimatete Silvia Dalla Benedetta (laut Eigeneinschätzung auf ihrer Website ein Soprano Drammatico di agilità) als Sinaide verdankt der Hörer Momente großer Oper, voller Emphase und Passion.
In weiteren Rollen sind der Tenor Patrick Kabongo (Éliézer), der Bass Baurzhan Anderzhanov (Oziride/Voix mystérieuse), der Tenor Xiang Xu (Ophide) und Albane Carrère als Marie zu erleben.
Wer die komplette Pariser Fassung aus 1927 in einer neueren Einspielung hören will, hat außer der DVD/Blu-ray aus Bregenz 2017 (mit den Wiener Symphonikern unter Enrique Mazzola) kaum Alternativen zur vorliegenden Neuerscheinung. Wer sich an den rhythmischen Asymmetrien zwischen Bühne und Graben, dem orchestralen Mittelmaß und Bühnengeräuschen nicht stört, wird hier zumindest eine sängerisch überwiegend fesselnde Wiedergabe finden. Die Leistung des Tenors Randall Bills darf als sensationell gelten.
Tipp: Wer hervorragende, allerdings italienisch gesungene Fassungen der Pariser Version 1827 genießen möchte, dem seien trotz auffälliger Kürzungen zwei Live-Mitschnitte empfohlen: Beide werden von Wolfgang Sawallisch dirigiert. Einmal vom 11.4.1968, RAI Roma, mit Ghiaurov, Zylis-Gara, Verrett, Corradi und Garaventa, die spätere Einspielung stammt vom 28.2.1988 aus der Bayerischen Staatsoper mit Raimondi, Vaness, Soffel, Moll, Araiza und Brinkmann (editorisch vorbildlich von ORFEO, basierend auf den Original Rundfunkbändern, herausgebracht).
Dr. Ingobert Waltenberger