CD: GIOACCHINO ROSSINI: ERMIONE • Kraków Philharmonic Orchestra, Antonino Fogliani
Koproduktion mit Rossini in Wildbad und Deutschlandfunk Kultur
Der kleine italienische Wilhelm Tell
«Ermione», Rossinis sechste (von neun) Oper, die er im Auftrag des Impresario Domenico Barbaja für die königlichen Theater Neapels komponierte, ist einer der grössten Misserfolge der Karriere des Schwans aus Pesaro. Und zugleich seine experimentellste Oper. Beides hängt eng zusammen, denn der experimentelle Charakter dürfte neben der Einbettung in die Epoche der Erfolgswerke wie «Elisabetta regina d’Inghilterra» (1815), «Otello» (1816), «Armida» (1817), «Ricciardo e Zoraïde» (1818), «La donna del lago» (1819), «Maometto II» (1820) und «Zelmira» (1822) und der verspäteten Uraufführung (vor der theaterfreien Karwoche waren nur noch sieben Aufführungen möglich) für den Misserfolg der Oper mitverantwortlich sein. Nach der Uraufführung äusserte sich weder Rossini in seinen Briefen noch wurde die Oper in den Druckmedien Neapels besprochen.
Das Libretto zu «Ermione» stammt von Leone Andrea Tottola (1750-1831), der Rossini schon die Libretti zu «La gazzetta» (1816), «Mosé in Egitto» (1818), «Edoardo e Cristina», (1819) «La donna del lago» (1819) und «Zelmira» (1822) geliefert hatte oder liefern wird. Es basiert auf Racines (1639-1699) «Andromaque», das als erste Tragödie der französischen Klassik gilt.
Nach dem Fall Trojas wurden die Überlebenden des trojanischen Königshauses als Sklaven nach Griechenland verschleppt. Hektors Witwe Andromaca (Andromache) fiel zusammen mit ihrem Söhnchen Astianatte (Astynax) an Pirro (Pyrrhus), Sohn des Achilles und König von Epirus. Nun hatte sich Pirro aber in Andromaca verliebt, was bei seiner Verlobten Ermione natürlich Zorn und Eifersucht hervorruft. Orestes, der als Gesandter der griechischen Könige nach Epirus geschickt wurde, um die Ermordung des letzten männlichen Erben der Trojaner, Astynax zu fordern, damit dieser den Griechen nicht eines Tages zur Gefahr zu werden und die Sicherheit ihres Landes gefährden konnte.
In einem Kerker in Buthrote, der Hauptstadt von Epirus, beklagen die trojanischen Gefangenen ihr Schicksal. Der kleine Astianatte schläft. Fenicio, Berater von König Pirro, führt Andromaca, die Witwe Hektors, herein. Für den Besuch bei ihrem Sohn ist ihr eine Stunde zugebilligt worden. Pirros Vertrauter Attala legt ihr Nahe, Pirros Werben nachzugeben und so die Freilassung ihres Sohnes zu bewirken. Hektors Witwe aber lehnt ab: zu sehr ist sie noch in ihrer Trauer gefangen.
Pirros Verlobte Ermione, Tochter von Menelaus und Helena glüht vor ihrer Eifersucht auf Andromaca und ihrem Wunsch nach Rache. Ungeduldig wartet Pirro auf Andromacas Rückkehr. Von Ermione muss er eine Flut heftigster Vorwürfe erdulden. Agamemnons Sohn Oreste trifft als Gesandter der griechischen Befehlshaber ein. Düstere Vorahnungen befallen Pirro, Ermione sieht in ihrem früheren Geliebten Oreste ein potentielles Werkzeug ihrer Rache. In Anwesenheit von Andromaca und Ermione empfängt Pirro Oreste. Ermione ist sich sicher, dass Andromaca sie bald verdrängen wird.
Orest überfallt Trauer, denn er liebt Ermione noch immer, fühlt seine Liebe aber nicht erwidert. Beim Empfang weist Pirro Ermione einen Ehrenplatz zu, denn er will, dass ihr früherer Status respektiert wird. Oreste erklärt der Versammlung seine Mission: Astianatte sei, um jede Gefahr abzuwenden, sofort zu beseitigen. Pirro besteht auf seinem Recht selbst zu entscheiden und zieht in Betracht eines Tages den Thron mit ihm zu teilen. Für Oreste kommt das einem Appell zum Aufruhr gleich. Pirro löst die Versammlung auf, schickt Ermione nach Sparte zurück und bittet Andromaca um ihre Hand. Diese versucht ihm aber wiederrum klarzumachen, dass sie nie seine Frau werden wird.
Oreste naht und überhäuft Ermione mit leidenschaftlichen Liebesschwüren. Sie aber erklärt ihm, dass sie ihn nicht mehr lieben könne. Pirro kommt mit der Nachricht seine Position überdacht zu haben. Er wünsche Frieden mit Griechenland und bittet zur Absicherung seine Heirat mit Ermione. Andromaca muss erkennen, dass ihre Weigerung Pirro zum Umdenken bewogen hat. Als Astianatte hereingeführt wird, wird ihr dessen Schicksal bewusst und so entscheidet sie ihr eigenes Leben hinzugeben, um nicht das ihres Sohnes opfern zu müssen.
Attalo berichtet Pirro, dass Andromaca seinem Werben endlich nachgebe. Cleone, die heimlich alles gehört hat, unterrichtet entsprechend Ermione. Während Pirro mit den Hochzeitsvorbereitungen beginnt, bekräftigt sie nochmals ihren Willen Gift zu nehmen, sobald Astianattes Freiheit gesichert sei. Ermione ist am Boden zerstört, als sie den Hochzeitszug mit Pirro und Andromaca sehen muss. So überreicht sie Oreste ein Dolch, um Pirro zu töten. Als er zurückkehrt und ihr einen blutigen Dolch überreicht, erliegt sie dem Wahnsinn. Pilade und seine Anhänger retten Oreste vor dem Zorn des Volkes. Ermione muss erkennen, dass sich Oreste ihr entzieht und bricht tot zusammen.
Was mag als Grund für den Misserfolg in Betracht kommen? Wie Rossinis andere Napolitaner Opern enthält auch «Ermione» höchst virtuose Vokal-Partien und einen üppigen Orchester-Part. Dafür standen Rossini ein eingespieltes Solisten-Ensemble (mit u.a. seiner späteren Gattin Isabella Colbran und dem Tenor Andrea Nozzari, Lehrer des legendären Giovanni Battista Rubini) und das führende Orchester der damaligen Opernwelt zu Verfügung. Ein Faktor des Misserfolgs dürfte die ungewöhnliche Form sein: Die Oper beginnt in ganz konventionellen Formen, die aber zerbrechen, wenn die Welt der Heldin zerbricht. Hinzu kommt die «regelwidrige» Ouverture, die unverändert bereits den (dann nochmals genau gleich klingenden) Chor mit dem Lamento der trojanischen Gefangenen («Troia! qual fosti un dì!»), enthält. Ein weiterer Faktor dürften die ausserordentliche Reinheit der Handlung und des Ausdrucks sein, die das Publikum an seine Grenzen brachte. Und die Umstände der Uraufführungen waren dem Erfolg kaum zuträglich: auf Grund der späten Uraufführung waren bis zum Beginn der theaterfreien Karwoche (und damit dem Saisonende) nur noch sieben Aufführungen möglich. Vielleicht herrschte so etwas wie «Theatermüdigkeit».
Für den Misserfolg von «Ermione» mag auch stehen, dass es in den Druckerzeugnissen Neapels keine Besprechung gab, und für das weitere 19. Jahrhundert nur eine Aufführung (am 30. Januar 1829 in Sevilla) überliefert ist. Jahre später äusserte sich Rossini zu «Ermione»: «Das ist mein kleiner italienischer Wilhelm Tell, und er wird das Tageslicht erst wieder nach meinem Tod erblicken». Rossini behielt mit seiner Prophezeiung recht: Die neuzeitliche konzertante Erstaufführung fand am 31.08.1977 in Siena statt, die erste szenische Aufführung der Neuzeit am 22.08.1987 in Pesaro im Rahmen des Rossini Opera Festival. Die vorliegende Einspielung entstand im Rahmen des Festivals ROSSINI IN WILDBAD am 16. und 23.07.2022 in der Trinkhalle zu Bad Wildbad.
Das Kraków Philharmonic Orchestra und der Kraków Philharmonic Chorus (Einstudierung: Marcin Wróbel) unter Leitung von Antonino Fogliani sind mit überbordender Spielfreude und purem Wohlklang am Werk. Rossinis Crescendi, die atemberaubende Instrumentierung und Virtuosität der Volkalparts kommen bestens zur Geltung. Der Chor überzeugt mit sattem Klang.
Serena Farnocchia gibt die Ermione mit herrlich wohlklingenden Koloratursopran. Patrick Kabongo als Oreste triumphiert mit einem traumhaft höhensicheren, kräftigen und doch immer leicht klingenden Tenore di grazia. So wird «Amarti? – Ah sì, mio ben!», der Einstieg ins Finale des ersten Akts, zu einem Höhepunkt stimmlicher Harmonie. Nicht weniger beeindruckend gelingt Orestes Cavatina «Reggia aborrita!», eine der bevorzugten Kofferarien Giovanni Battista Rubinis. Aurora Faggioli besticht als Andromaca mit tadellos geführtem, leicht verführerisch getönten Mezzo-Sopran. Moisés Marín gibt den Pirro mit kernig timbrierten, höhensicheren Tenor. Chuan Wangs (Pilade) gibt einen guten Kontrast zu den bereits erwähnten Tenören und punktet mit grosser Stilsicherheit. Jusung Gabriel Park als Fenicio, Mariana Poltorak als Cleone, Katarzyna Guran als Cefisa und Bartosz Jankowski als Attalo ergänzen das formidable Ensemble.
Suchtgefahr: Eine der besten Opern Rossinis in einer mitreissenden Einspielung!
29.06.2024, Jan Krobot/Zürich