CD GIACOMO PUCCINI: LE VILLI – Live-Mitschnitt aus dem Münchner Prinzregententheater vom Oktober 2024, BR-Klassik
Zum 100. Todestag von G. Puccini: Von untreuen Männern und mörderisch rachetanzlustigen Brautleichen
Fernando Fontana hat auf Basis der gruseligen Kurzgeschichte „Les Willis“ von Alphonse Karr ein Libretto gezimmert, das offensichtlich ausreichte, um das Genie des jungen Giacomo Puccini zum Klingeln zu bringen und ihm anlässlich der Uraufführung am 31.5.1884 seinen ersten rauschenden Opernerfolg bescherte. Es wird berichtet, dass das Liebesduett, der Geistertanz und die Tenorromanze ‚Torna ai felici dì‘ wiederholt werden mussten.
Literarische Vorlagen und Hinweise zu diesen seltsamen von Totengerippen vor der Hochzeit (aus Kummer) verstorbener Bräute geübten Tänze, die ihren „Freiern“ bevorzugt an Heerstrassen auflauerten, gab es in Genüge. Als da wären Therese von Artners „Der Willi-Tanz: Eine slawische Volkssage“ oder Heinrich Heines „Elementargeister“. Auch als Adolphe Adams Ballett „Giselle“ war der Stoff, 1841 an der Opéra de Paris uraufgeführt, landläufig bekannt.
Der von seinem Lehrer Amilcare Ponchielli an Puccini vermittelte Fontana lässt diese „Opera ballo“ im Schwarzwald spielen. Die Handlung ist einfach skizziert: Anna und Roberto feiern ihre Verlobung im erwartungsfrohen Wissen und in Bezug auf Anna von düsteren Vorahnungen geplagt, dass Roberto am selben Abend noch nach Mainz abreisen muss, um eine große Erbschaft anzutreten. Roberto fährt mit dem Segen des Stiefvaters in spe, i.e. des Fölsters Guglielmo Wulf, ab. Der Landei-Hallodri geht mit dem vielen Geld Prostituierten auf den Leim und ist auch sonst den Freuden nächtlicher Verführungen nicht abgeneigt. Das alles geschieht – sinfonisch aufgepeppt – während eines zweiteiligen Intermezzos. Reuig und ohne Geld kommt der ungetreue Bursche nach einigen Monaten abgehalftert ins verschneite Dorf zurück. Die Verlobte ist längst aus gebrochenem Herzen dahingeschieden. Da trifft er auf die zur Willis mutierte Anna, die der Sage gemäß den Ex-Verlobten gemeinsam mit ihren gespenstischen Gefährtinnen in einen Todestanz treibt.
Die Entstehungsgeschichte folgt einer Mixtur aus Genie, Glück und Protektion, weil Puccini im von Edoardo Sonzogno 1883 ausgeschriebenen Erstakter-Wettbewerb nicht reüssierte. Als aber Marco Sala, Mailänder Kunstliebhaber, Puccini in seinem Salon im Beisein von Arrigo Boito am Klavier aus der Oper vorspielen ließ, wendete sich das Blatt. Boito überredete den Direktor des Teatro del Verme, Steffanoni, die Uraufführung zu organisieren. Giulio Ricordi fand sich zum Gratisdruck des Librettos bereit. Nach einigen Nacharbeiten haben wir es jetzt mit einem zweiaktigen Stück zu tun
Nun: Die Musik ist entgegen aller Regeln bereits bester Puccini mit unglaublichen melodischen Einfällen und effektvollen Szenen. Sicher, es handelt sich um die hybride, lose Aneinanderfolge großer Nummern (Arien, Ballett, Chor und Instrumental-Zwischenspiel) mit wenig dramaturgischer Konsistenz. Aber seit ich „Le Villi“ mit der Veröffentlichung der 1979 aufgenommenen CBS-Platte mit Scotto, Domingo und Nucci (Tito Gobbi als Narratore – auf diese Rolle wurde in der vorliegenden Aufnahme verzichtet) unter der musikalischen Leitung von Lorin Maazel kennen lernte, war es – gäbe es sowas – Liebe auf den ersten Ton.
Seither sind etwa eine Handvoll an Tonträgern bzw. audiovisuell eingefangenen „Le Villi“ Produktionen dokumentiert. Aber keine reicht instrumental oder von der Besetzung her an den Mitschnitt der konzertanten Aufführung mit dem Münchner Rundfunkorchester im Prinzregententheater mit Anita Hartig (Anna), Kang Wang (Roberto) und Boris Pinkhasovich (Guglielmo) in den Hauptrollen heran. Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchesters unter ihrem Chefdirigenten Ivan Repušić lassen Puccini in all dem verführerischen Schmelz der Kantilenen, der lyrischen Verzückung und den dramatischen Ausbrüchen aufblühen und erzählerische Kontur gewinnen.
Am meisten überraschte mich die lyrische Sopranistin mit tollen Spinto-Qualitäten Anna Hartig als schrecklich um ihr Leben betrogene Anna. Sie gefällt mir noch besser als Renata Scotto, weil die Höhe unangestrengt aufblüht, die Stimme in der Mittellage Biss hat, die Kuppeltöne frisch glänzen und diese fantastische Sängerin sowohl der Mädchenhaftigkeit der Figur im ersten Akt als auch der Rachedramatik im zweiten Akt voll und ganz gerecht wird.
Der australisch-chinesische Tenor Kang Wang schlägt sich in der von der Tessitura her fordernden Partie des Roberto wacker. Die leicht körnig granulierte Stimme mit metallischer Höhe ist charaktervoll gefärbt, wenngleich der noch im Lyrischen verhaftete Tenor dann und wann an seine natürlichen Grenzen stößt. Der Glaubhaftigkeit der Figur tut das keinen Abbruch, im Gegenteil. Die kleinere Partie von Annas Vater ist beim aus St. Petersburg stammenden Bariton Boris Pinkhasovich gut aufgehoben.
Fazit: Ein Album, das Puccinis musikalisch gelungenen Erstling „Le Villi“ in all seiner lyrischen Schönheit und seinem vokalen Prunk eindrücklich auf das Qualitäts-Niveau hebt, das dem Werk gebührt. Opernglück pur!
Dr. Ingobert Waltenberger