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CD GEORGES BIZET „CARMEN“ mit ELISABETH HÖNGEN, TORSTEN RALF und JOSEF HERRMANN; KARL BÖHM leitet die STAATSKAPELLE DRESDEN; Profil Hänssler

15.06.2021 | cd

CD GEORGES BIZET „CARMEN“ mit ELISABETH HÖNGEN, TORSTEN RALF und JOSEF HERRMANN; KARL BÖHM leitet die STAATSKAPELLE DRESDEN; Profil Hänssler

Semperoper Edition Vol. 12: Gediegene Neuedition einer Historischen Rundfunk-Aufnahme vom 4. und 5. Dezember 1942

0881488160765

Schon als Opernjungspunde in den 70-er Jahren waren uns die deutschsprachigen Carmen-Ausschnitte mit Martha Mödl und Elisabeth Höngen bestens bekannt. Damals ritterten so manch frisch Stimmenbegeisterte darum, wer denn von beiden die bessere Carmen gewesen wäre, die üppige Hochdramatische Mödl oder die kantigere Charakteraltistin Höngen. Elisabeth Höngen ist jedenfalls die beeindruckende Interpretin der Titelrolle im vorliegenden, unglaublich gut restaurierten Rundfunkmitschnitt unter Karl Böhm aus der Semperoper Dresden.

Elisabeth Höngen war das Gegenteil einer pseudo-verführerisch, kokett-hüftschwingenden Klischee-Carmen. Ihre Interpretation war unsentimental, irgendwie unheimlich und sachlich distanziert. Wir haben es bei ihrer Carmen mit einer nur ihren eigenen Gesetzen folgenden charakterstarken Natur zu tun, die inmitten all der sie umgebenden männlichen „Schwachmaten“ instinktiv, launisch und um die ureigene Macht über das andere Geschlecht wissend dem Moment folgt und angstfrei den logischen Weg bis in den Tod geht. Denn die eigene luftige Freiheit geht dieser Carmen auch in Liebessachen über alles. Rein stimmlich ist eine fabelhafte Leistung ohne Fehl und Tadel zu bewundern. Höngen führt ihren individuell herb getönten, grandios fokussierten Alt bruchlos durch alle Register, die dämonisch feuerspeienden Höhen sind schlichtweg phänomenal. Nachvollziehbar ist so, dass Karl Böhm Höngen als „größte Tragödin der Welt“ sah. Von der Ausstrahlung her war Elena Obraszowa eine ähnlich archaisch antikische Carmen ohne jeglichen spanischen Folklore-Gigi. Elisabeth Höngen, die auch das Geigenspiel beherrscht und Germanistik und Musikwissenschaft studiert hat, trat ihr Engagement in Dresden mitten im Krieg 1940 an. Am 9. Juli 1943 sang sie da ihre letzte Carmen, bevor sie 1943 dem Ruf an die Wiener Staatsoper folgte.

Der schwedische Tenorstar der Aufnahme, Torsten Ralf, wurde von Karl Böhm schon 1935 an die Dresdner Semperoper geholt. 1938 sang er in Dresden in der Uraufführung von Richard Strauss‘ „Daphne“ den Apoll. Ich kann die Begeisterung von Peter Schreier (der sogar seine Söhne auf die Namen Torsten und Ralf getauft hat) für die hohe und rare Kunst dieses edel timbrierten Heldentenors absolut nachvollziehen. Torsten Ralf war als José beileibe kein verführerischer Latin Lover á la Domingo. Er vermochte es nicht nur im vierten Akt, seiner tödlichen Eifersucht mit großer Otello-Stimme furchterregend und elementar Ausdruck zu verleihen, sondern zu Beginn das zuerst hilflos schüchterne Hascherl José mit ungemein lyrischer Tongebung situationsscharf zu charakterisieren. Diese extreme Entwicklung der Figur habe ich bei keinem anderen Tenor in der spezifischen Abmischung der Register auch stimmfarblich so nachvollziehbar erlebt wie bei Torsten Ralf. Ereignishaft. Dafür ist der Interpret des Escamillo, der Bariton Josef Herrmann, eine herbe Enttäuschung. Als Heldenbariton mit seltsam dünner Höhe und resonanzunfreundlich geschlossen artikulierten Vokalen bleibt er als Torero-Womanizer steif im vokalen Auftritt und flach als Figur.

Als Micaela hören wir die brave lyrische Sopranistin Elfriede Weidlich, eine korrekte Interpretin der treu naiv und etwas blind in ihren José vernarrten Verlobten. Dafür sind der Leutnant Zuniga und die Frasquita mit Kurt Böhme und Elfride Trötschel überaus stimmmächtig und luxuriös besetzt. Da erleben wir ein gutes Beispiel dafür, wie Nebenrollen ihr Gewicht erhalten und so die Balance einer Partitur in ein andere Licht rücken.

Das große musikalische Ereignis ist wieder einmal Karl Böhm am Pult der Staatskapelle Dresden. Natürlich steht da – wie überall außerhalb Frankreichs – die große französische Oper in der durchkomponierten Fassung (d.h. ohne gesprochene Dialoge) und in der leider holprigen und hölzernen deutschen Nachdichtung von Julius Hopp auf dem Programm. Es sollte Walter Felsenstein vorbehalten sein, für eine Premiere an der Komischen Oper Berlin und sodann für eine Dresdner Wiederaufnahme 1950 für eine neue, am französischen Urtext orientierte Textfassung zu sorgen, die nach Ernst Krause mit den „vergilbten, rührend schaurigen, schicksalsträchtigen Balladenbildern“ aufgeräumt hat. Karl Böhms „Carmen“-Dirigat atmet vom ersten Takt an hitziges Theaterblut. Er bevorzugt straffe Tempi und sorgt mit forschem Zugriff für Hochspannung im präzise einstudierten Orchester und den wie am Schnürl funktionierenden rhythmisch präzisen Ensembles. Auf die Sänger braucht er, was die Dramatik im Orchester anlangt, sowieso keine sonderliche Rücksicht zu nehmen.

Die Aufnahme ist abseits aller bekannten kriegs- und regimebedingten Implikationen (im Booklet bestens recherchiert nachzulesen) noch aus einem anderen als einem rein künstlerischen Standpunkt bemerkenswert: Es war eine der ersten Tonbandaufzeichnungen im Rundfunk, die etliche Vorzüge gegenüber den bislang verwendeten Plattenschneidern aufwies. Das AEG Magnetophon mit einer Bandlaufgeschwindigkeit von 77cm/s wies eine Bandlänge von 1000 Metern aus. Das entsprach 22 Minuten Aufzeichnungszeit. Für die „Carmen“ liefen zwei sich abwechselnde Magnetophone und bespielten knapp acht Bänder. Das Musikerlebnis ist dank einem plastisch eingefangenen Orchester unmittelbar und atmosphärisch packend. Die Stimmen kommen natürlicher und direkter zur Geltung als bei vielen künstlich abgemischten Aufnahme von heute. Überhaupt ist die Tonqualität des fast 80-jährigen akustischen Dokuments vorzüglich.

Auf einer eigenen vierten Bonus-CD sind Dresdner Ausschnitte aus Bizets „Carmen“ aus der Zeit von 1905 bis 1949 mit Eva von der Osten, Richard Tauber, Robert Burg, Elisabeth Rethberg, Tino Pattiera, Maria Cebotari, Heinz Sauerbaum und Elfride Trötschel zu hören. Zwei umfangreiche Booklets (82 und 44 Seiten) mit vielen Fotos und Informationen über Künstler und den damaligen Opernbetrieb ergänzen eine vorbildliche Edition.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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