CD GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: RINALDO – Fassung 1731; Glossa
Alles dreht sich um Mars und Eros: Ausdrucksintensiv und spannungsreich, aber überwiegend kein Fest der schönen Stimmen
„Rinaldo“, das ist eine jener bekannten Händel-Opern, die durch Hits wie ‚Cara sposa, amante cara‘ oder ‚Lascia ch’io pianga, mia cruda sorte‘ für Herzklopfen und Gänsehaut sorgen, aber auch durch eine gelungene dramatische Disposition und den besten melodienselig schmachtenden Händel-Sound ganz und gar für sich einnehmen. Und wer dächte bei der überaus langen und anspruchsvollen Titelrolle nicht an in üppiger Stimmpracht, enormen Stimmumfang und Agilität schwelgenden Kontraaltistinnen wie Marylin Horne, Ewa Podles oder Sonia Prina, die Interpretationen mit Ewigkeitswert vorgelegt haben.
Natürlich haben sich mittlerweile auch Countertenöre diese tolle Rolle erobert. Man denke etwa an David Daniels, der bei der von der Besetzung her wohl spektakulärsten Aufnahme (DECCA) mit Cecilia Bartoli, Bernarda Fink, Daniel Taylor, Gerald Finley, Luba Orgonasova sowie Bejun Mehta und Christopher Hogwood am Pult der Academy of Ancient Music für einen Ohrenschmaus sondergleichen sorgte.
Auf der vorliegenden, 2023 in London entstandenen Aufnahme, ist es der Florentiner Filippo Mineccia, der seinen charaktervollen, aber herb-aufgerauten und in den Portamenti manchmal im Ungefähren geführten Countertenor dem christlichen Ritter leiht. Dieser ist angetreten, unter der Führung des Heerführers Goffredo die Stadt Jerusalem vom sarazenischen König Argante zu erobern. Der verwegene Streiter wird praktischerweise von der Tochter seines Chefs, der schönen Almirena geliebt, und das noch auf Gegenseitigkeit.
Auf der anderen Seite des militärisch-erotischen Geschehens finden wir Argante und dessen Geliebte, die Zauberin Armida, ihrerseits Königin von Damaskus. Und da wir es mit einer typischen Barockoper zu tun haben, ist es nicht verwunderlich, dass sich Argante in die von Armida entführte Almirena und die Magierin selbst in den zu Hilfe eilenden starken Krieger Rinaldo verliebt, Religionsunterschiede hin oder her. Nach allerlei Irrungen und Wirrungen gelingt es Rinaldo, seine Verlobte zu befreien. Armida konvertiert in der 1711-Fassung zum christlichen Glauben. Die Kreuzfahrer befreien Jerusalem. Dazwischen sorgen feuerspeiende Monster, Geister und Furien für die Grundlage aufsehenerregender Bühneneffekte
Aber aufgepasst: Von Ronaldo gibt es zwei Versionen die sich stark voneinander unterscheiden. Die ursprüngliche ist die auf die Uraufführung 1711 zurückgehende Fassung, die erste (italienische) Oper, die Händel für London schrieb und mit der das Queen’s Theater am 24.2.1711 am Haymarket eröffnet wurde. Das Libretto auf Basis von Torquato Tassos ‚Gerusalemme liberata‘ über den ersten Kreuzzug 1096 bis 1099 stammte von Giacomo Rossi und Aaron Hill, der in dieser Saison auch das Theater managte und das Bühnenbild entwarf. In einem rein privat finanzierten Theater muss man eben schauen, wie man durchkommt.
Bekanntlich passten Komponisten des 18. Jahrhunderts ihre Opern je nach vorhandener Besatzung an die Möglichkeiten und Launen ihrer Stars an, sie trugen darüber hinaus den Aufführungsörtlichkeiten Rechnung. So erging es auch „Rinaldo“, der 1731 den Bedingungen der zweiten Opernakademie folgte. Änderungen gab es beim Libretto, durch die Transponierung von Stimmfächern (Rinaldo mutierte vom Kastraten-Sopran zum Kastraten-Alt, Armida vom Sopran zum Alt, Goffredo vom Alt zum Tenor, Mago vom Kastraten-Alt zum Bass, die Figur des Eustazio entfiel ganz), die Änderung von Tonarten, die Kürzung von Rezitativen und natürlich durch neue Musik. Bei letzterer bediente sich Händel gerne bei sich selbst: Vier „neue“ Arien stammten aus der Oper „Lotario“, je eine borgte sich Händel aus „Partenope“ und „Admeto“. Überhaupt fand eine Neuordnung der Arien und Duette statt, inhaltlich wurde der ganze Schluss geändert: Statt Armidas und Argantes Bekehrung zum katholischen Glauben werden Magierin und ihr Lover von einem Drachenwagen entführt. Gleich sind die französische Ouvertüre und die Anzahl von 39 Nummern je Fassung.
Als sehr erfreulich an der neuen Gesamteinspielung erweisen sich das akzentsichere, farbige, kontrastreiche und atmosphärisch dichte Spiel des Ensembles Il Groviglio unter der animierenden künstlerischen Leitung von Marco Angioloni. Da ähnelt die Spannung einem Live-Mitschnitt, zudem werden die Rezitative werden saftig und theatralisch wirksam exekutiert.
Als keine gute Idee erwies sich, dass Marco Angioloni auch die Partie des Goffredo übernahm. Zu hölzern und in den Verzierungen allzu buchstabiert erklingt sein metallisch heldischer Tenor. Mit einem seidig timbrierten lyrischen Sopran hingegen eröffnet Roberta Mameli als Almirena wundervolle Lichtblicke an Geschmeidigkeit und sängerischer Anmut. Als größte positive Überraschung der Besetzung darf der junge belgische Countertenor Logan Lopez Gonzalez in der Rolle des Argante gelten, obwohl man diesem formidablen Sänger mit seinem goldenen Timbre (noch) keinen streitbaren Krieger abnimmt. Und Vivica Genaux als Armida? Mit hochdramatischer Attitüde legt sie sich vokalen Furor verbreitend voll ins Zeug. Allerdings schrammt sie mit ihrem vibratosatten Mezzo und bissigen Ausdrucksextremen wie einst Astrid Varnay als Klytämnestra haarscharf an der Karikatur vorbei. Insgesamt ist ihr aber doch ein faszinierendes Rollenporträt zuzugestehen. Michel Mignone brummt sich bassgrob durch die Rollen von Mago cristiano und Aroldo.
Fazit: Wegen der rar gespielten Fassung, der durchwegs fantasieanregenden, flott instrumentalen Seite, Roberta Mameli als Almirena und dem aufstrebenden Countertenor Logan Lopez Gonzales als Argante von Interesse.
Dr. Ingobert Waltenberger