CD GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: ALCINA – Mark Minkowskis jüngster Streich mit Magdalena Kožená in der Titelpartie; Pentatone
Händel geht immer!
Das wundersame Erotik-Inselreich der schönen Zauberin Alcina hat Händel mit einer seiner melodienseligsten und szenisch ambitioniertesten Opern verewigt. Dabei greift Alcina, um ihr Liebesleben abwechslungsreich und stets prickelnd führen zu können, zu Mitteln, die glücklicherweise einer mythologischen Magierin vorbehalten sind. Wobei der Gedanke, überdrüssig gewordene, hartnäckige Liebespartner in Tiere verwandeln und somit mehr oder weniger elegant – zumindest ohne Giftmord oder ähnliches – loswerden zu können, ja etwas haben dürfte, was den einen oder die andere sehnsuchtsvoll nachdenklich machen dürfte.
Aber natürlich ist Händels „Alcina“ vor allem eine raffiniert klangmachtvolle Metapher auf die Vergänglichkeit und Korrumpiertheit menschlicher Gefühle, auf Schein und sein, das blitzrasche Entbrennen in und ebenso flinke Verlöschen von Leidenschaft. Kreuz und quer wird mit Verkleidungen geschummelt, mit vernebeltem Verstand begehrt, Liebe mit Sex verwechselt, dem schönen Schein von Verführung und Attraktion erlegen. Und da der Zweck die Mittel heiligt, wird ganz bewusst verleumdet und gelogen, was das Zeug hält, ja ganze Armeen aufgefahren, um in Liebesdingen, und sei es mit Gewalt, zu reüssieren. Am Schluss endet es, weil es halt moralisch opportun ist, mit der Niederlage der auf Ruggiero versessenen Alcina.
Die Alcina ist eine höchst attraktive Rolle für verzierungsgewandte wie ausdrucksstarke (Mezzo)Sopranistinnen. Nach Joan Sutherland, Arleen Auger, Patricia Petibon, Sandrine Piau, Anja Harteros oder Joyce DiDonato, um nur einige zu nennen, ist es jetzt Magdalena Kožená am Zenit ihrer Laufbahn, die weniger das Virtuose der Partie, sondern die emotionalen Berg- und Talfahrten, die Tragik und dunkle Dramatik der widerstreitenden Affekte der Figur betont. Ihr Mezzo strahlt chiaroscuro in satten Rembrandtfarben. Die über 12 Minuten lange Arie „Ah mio cor“, in der Alcina ihre Furcht vor Verlassenwerden in vor Verzweiflung berstende Klänge taucht, wird dank Koženás ans Eingemachte gehender Intensität zum Höhepinkt der ganzen Aufführung.
Erin Morley ist mit ihrem leuchtenden lyrischen Sopran eine Traumbesetzung für Alcinas Schwester Morgana, die sich in die als Jüngling verkleidete Bradamante verliebt. Den liebesverzückten, koloratur- und trillerglitzernden Barockopernhit „Tornami a vagheggiar, te solo vuol amar“ am Ende des ersten Akts präsentiert Morley in glockenhellem Jubelton und lässt so gewiss alle Melomanenherzen höherschlagen.
Eine Überraschung ist, dass mit der italienischen Mezzosopranistin Anna Bonitatibus in der Rolle des Ruggiero, eigentlich der Verlobte Bradamantes, von Alcina bezirzt und berauscht, ein dramaturgisch und vokal adäquater, vom Timbre her nicht unähnlicher Typ zur Alcina der Kožená gewählt wurde. In „Mi lusinga il dolce affetto“, weiß Bonitatibus die weiten Legatobögen, die berührenden Kantilenen Händels, um die Unsicherheit und das schlechte Gewissen des Ruggiero beim Anblick der früheren Geliebten zu vergegenwärtigen, in allen Facetten auszuleuchten. Am Ende zerbricht er die Urne Alcinas und damit ihre Zauberkraft.
Der kalifornische Bass Alex Rosen als Bradamantes Gefährte Melisso überzeugt mit sonorem Ton auf vulkanschwarzem Grund. Die große Arie im zweiten Akt „Penso a chi geme„ weist ihn als stimmcharaktervollen Interpreten ersten Ranges aus.
Als Bradamante kann die im Vergleich zu Anna Bonitatibus wesentlich dunkler timbrierte Kontraaltistin Elizabeth DeShong ihre stupende Verzierungskunst in fulminant flotten Arien wie „Vorrei vendicarmi“ temperamentvoll ausspielen und damit gehörig auftrumpfen.
Der Tenor Valerio Contaldo gibt den resch-eifersüchtigen Oronte, gefühlsmäßig schon längst überstandiger Lover der Morgana. Der aufstrebende österreichische Countertenor Alois Mühlbacher reüssiert als unverwechselbar androgyn timbrierter Oberto. Auf der Suche nach seinem von Alcina in einen Löwen verzauberten Vater Astolfo kommt Oberto am Ende der Oper eine Schlüsselrolle zu. Er lässt nicht zu, dass Alcina den Löwen=seinen vermutlichen Vater tötet und richtet seinen Speer gegen sie. Das markiert den Auftakt zum letzten Ende der Alcina und ihres Zauberreichs
Mark Minkowski dirigiert sein vorwiegend auf Alte Musik spezialisiertes Ensemble Les Musiciens du Louvre mit allen Finessen seiner langjährigen Erfahrung detailreich, artikulatorisch konzise und in aller Klangfarbenpracht Händelscher psychologisch ausgefeilter Vokal- und Instrumentierungskunst. Und siehe da, der hellere französische Orchesterklang bekommt Händel und seiner „Alcina“ bestens. Einwand? Keiner, überhaupt keiner.
Die Aufnahme ist im Februar 2023 im Auditorium de Bordeaux mit technischer und logistischer Unterstützung der Opéra National de Bordeaux entstanden.
Dr. Ingobert Waltenberger