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CD FRIEDRICH GULDA – COMPLETE DECCA RECORDINGS

Eine Jahrhundertbox – einer der bedeutendsten Mozart- und Beethoven-Interpreten überhaupt, dazu ein begnadeter Jazzer

25.08.2021 | cd

CD FRIEDRICH GULDA – COMPLETE DECCA RECORDINGS

Eine Jahrhundertbox – einer der bedeutendsten Mozart- und Beethoven-Interpreten überhaupt, dazu ein begnadeter Jazzer

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„Mir ist beinah, ich wäre wer, der ich doch nicht mehr bin.“ Aus den Galgenliedern von Christian Morgenstern

Das Angenehme am diskographischen Vermächtnis großer Musikerpersönlichkeiten ist, dass man sich nicht mehr mit Anekdotischem, Tabubrüchen, zeitgebundenen Exzentrizitäten oder schrägen Auftritten auseinandersetzen muss. Denn: Wer will sich schon zu den “scheißreaktionären Kunstlemuren des Klassikbetriebs” zählen?

Nackt Klavier gespielt im TV? Na und. Publikum beschimpft? Schon lange verhallt. Ein Wanderer zwischen den Welten Klassik und Jazz? Schon längst ein Qualitätsmerkmal. Todesmeldung samt „Wiederauferstehung in der Paradise Night“ im Wiener Konzerthaus mit DJs und Technotänzerinnen? Skurrilität am Rande, die in Zeiten von noch viel verrückteren Netflix-Serien, die schon 10-Jährige anschauen, wohl niemand mehr kitzelt. Die Rückgabe des Beethoven-Rings an die Wiener Musikakademie 1969, weil seine Forderung nach einem erweiterten Lehrbetrieb, intensiven Studien der Improvisationspraktiken und ein paritätisches Mitspracherecht der Studenten bei akademischen Entscheidungen auf Unverständnis stieß. Heute: Ein politisch vollkommen korrektes Verhalten, das allseits Zustimmung fände. Ich empfehle zum besseren Verständnis des Pianisten die Lektüre seiner Rede zur Verleihung: Link zu den sehr anregenden Gedanken Guldas über den Musikbetrieb, die wohl auch heute noch gelten: http://www.gulda.at/deutsch/biographie/1969_rede.htm

Die vorliegende Box des Allrounders Gulda ist schon deshalb so interessant, weil sie mit den ersten Studioproduktionen des 17-jährigen 1947 startet und mindestens zur Hälfte glorios frische Aufnahmen aus der Anfängerzeit bietet, die – wie es so schön heißt – nun erstmals auf dem internationalen CD-Markt angeboten werden. Glück hat er schon gehabt: Beim Internationalen Klavierwettbewerb in Genf 1946 gewann Friedrich den ersten Preis. Da wurde Maurice Rosengarten auf Gulda aufmerksam. Rosengarten sollte nämlich für die DECCA neue Künstler unter Vertrag nehmen. So kam es, dass schon im Oktober 1947 nach ersten Bach-Aufnahmen auch die „Images“ von Debussy und Prokofievs Klaviersonate Nr. 7 Op. 83 im Kasten waren. Im Dezember 1948 folgten eine fabelhafte Chopin-LP sowie die ersten Mozart-Versuche mit den Sonaten Nr. 17 und Nr. 18, beide in-D-Dur. Also gab es ab Anfang vor allem, aber nicht nur Repertoireraritäten des Friedrich Gulda zu hören, aus denen seine technische Bravour, die stupende Anschlagstechnik, aber auch manch musikalische Freiheit leuchtturmartig hervorstechen.

Schon in den Fünfziger-Jahren gab es erste Platten mit Friedrich Gulda als Jazz-Komponisten und Jazz-Pianisten. So musizierte und improvisierte er im New Yorker Club „Birdland“ am 28. und 29. Juni 1956 als Teil eines von John Hammond zusammengetrommelten Friedrich Gulda Sextetts. Der Auftritt geriet in der Fachpresse zum Triumph, den Gulda beim Newport Jazz Festival kurz danach wiederholen konnte. Die Klassikszene hingegen hyperventilierte („Er wird am Hungertuch nagen“), als der Teil-Mitschnitt des Bebop-Albums „Live at Birdland“ mit Idrees Sulieman, Jimmy Cleveland, Seldon Powell, Aaron Bell, Nick Stabulas und Phil Woods als Partner 1958 in die Plattenläden gelangte. Natürlich enthält die vorliegende Box auch jenen atmosphärisch genauso packenden Teil des Konzerts, der unter dem Titel „A Man of Letters“ auf einer zweiten LP erschien.

Die zwei Stränge des musikalischen Lebens von Gulda waren damit gesetzt. Innerhalb der Klammer gab es später immer wieder Aufs und Abs. So freuten wir und über neoklassizistische Schübe, wo Gulda sein klassisches Repertoire pflegte bzw. sein Cellokonzert schrieb oder aber gönnten ihm von Herzen, dass er spät im Leben die Club Szene auf Ibiza entdeckte, wo er der Faszination von Techno und House erlag.

Mozart: Gerade bei diesem Komponisten zeigt sich wie kaum sonst Guldas phänomenaler, himmlisch leichter Anschlag, wie ich das sonst nur bei Clara Haskil gehört habe. Ich stelle mir Gulda vor, wie er tonlos übt, über die Tasten flitzt, gerade nur so tief, dass eben kein oder dann nur transzendent perlende Klänge nicht von dieser Welt herauskommen. Dass hier dennoch nichts verhuscht, sondern jeder Ton präzise abgezirkelt wie bei Gould erklingt, grenzt an ein Wunder. Die phantastischen Aufnahmen der Konzerte Nr. 14, K. 449, Nr. 25, K. 503 und Nr. 26, K. 537 („Krönungskonzert“), alle mit dem London Symphony Orchestra unter Anthony Collins) gehören für mich zu den Kronjuwelen der Box. Mozart als Softie also? Nix da. Gulda spielte „il divino maestro Mozart“ bisweilen auch mit der fokussierten Präzision eines Karatemeisters im höchsten Dangrad, also mit außerordentlicher Schnellkraft, aber niemals gedroschen, kraftvolle Töne und Phrasen in sein Spiel einbauend.

Wo wir bei Beethoven wären. Die beiden vollständigen Sonateneinspielungen (auf der Box ist sowohl der gesamte Zyklus aus den Fünfzigern als auch der berühmte Zyklus des Labels Amadeo aus 1967 vollständig abgebildet) gehören zu den überlebensgroßen Monumenten der Beethoven-Diskographie. Im ersten bleibt Gulda stilistisch ein Nachfahre des großen Wilhelm Backhaus. Bei der späteren Version macht sich eine härtere, sachlichere Handschrift bemerkbar. Oder wie es Jed Distler im Booklet trefflich ausdrückt: „Man verspürt insgesamt eine größere Kraft zusammen mit einem kargeren, schlankeren Klang und zielstrebigen Elan, wie die fiebrige Interpretation der Sonate op. 110 oder die ungewohnt heftigen Versionen der „Waldstein-Sonate“ oder der „Appassionata“ erweisen.“ Die Auszeichnung gigantisch/unübertrefflich verdient auch die Einspielung der fünf Klavierkonzerte mit den Wiener Philharmonikern unter dem ehernen Dirigat von Horst Stein aus den Jahren 1970/71. Es sind die einzigen Aufnahmen der Box, die in den technischen Formaten CD und Blu-ray audio zur Verfügung stehen. Abgerundet werden die legendären Beethoven-Interpretationen mit einigen Bagatellen und Variationen sowie den Violinsonaten Nr. 7 und 10 mit Ruggiero Ricci als Partner.

Meine persönlichen Hits der Box umfassen noch die Mono-Aufnahme des ersten Chopin Konzerts in e-Moll Op. 11 in der Bearbeitung durch Mili Balakirev (von Chopins Études empfehle ich etwa die achte zu hören), mit dem London Philharmonic unter Adrian Boult (1954), das Klavierkonzert von Robert Schumann in a-Moll, Op. 54 gekoppelt mit dem Konzertstück in f-Moll, Op. 70 von Carl Maria von Weber, beides mit den Wiener Philharmonikern unter Volkmar Andreae (1956) sowie für mich völlig überraschend der so dramatisch empfundene Liederkreis Op. 39 von Robert Schumann mit Langzeitpartnerin und Sopranistin Ursula Anders als Solistin (1984).

Eine Klasse für sich bilden die Aufnahmen von Werken des Richard Strauss. Für mich wieder unübertroffen witzig ist die Burleske in d-Moll für Klavier und Orchester mit dem London Symphony Orchestra unter Anthony Collins, die Suite zu „Le Bourgeois Gentilhomme“ Op. 60a mit den Wiener Philharmonikern unter Lorin Maazel bzw. als Sternstunde des Liedgesangs dürfen die 14 Lieder mit Hilde Güden als seraphisch silbrig flimmernder Stimme gelten.

Als letztes möchte ich dem (Jazz)-Komponisten Friedrich Gulda ein Wort widmen. Die für die Philipps aufgenommen CD „Gulda plays Gulda“ aus dem Jahr 1984 zählt zu den absoluten Highlights der Box. Dass Gulda als Pianist rockig beschwingt, rhythmisch knackig und improvisatorisch frei Jazz draufhat, dürfte sich herumgesprochen haben. Dass er aber auch als Musiker und Komponist zu den besten Jazzern aller Zeiten gehört, ist an Titeln wie „Für Paul“, „Für Rico – Baroque Rock“ oder „Wintermeditation“ staunend erfahrbar. Wer davon nicht genug haben kann, dem seien auch die berühmten auf Band festgehaltenen Begegnungen Guldas mit Chick Corea auf zwei Klavieren anempfohlen.

CD 1-9 Beethoven: Klaviersonaten Nr. 1-32 (Decca Recordings 1950-1958)
CD 10-15 Beethoven: Klaviersonaten Nr. 1-32 (Amadeo Recordings 1968)
CD 19-21 Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1-5 (Wiener Philharmoniker, Horst Stein / 1970 / 1971)
CD 22 Beethoven: Klaviersonaten Nr. 14 & 31 (1950 / 1949)
CD 23 Beethoven: Violinsonaten Nr. 7 & 8 (Ruggiero Ricci / 1954)
CD 24 Beethoven: Klavierkonzert Nr. 1 (Wiener Philharmoniker, Karl Böhm / 1951); Eroica-Variationen op. 35 (1950); Bagatellen op. 126 Nr. 2 & 3 (1951)
CD 25 Bach: Präludium & Fuge dis-moll BWV 877 aus WTK II; Englische Suite BWV 808; Mozart: Klaviersonaten Nr. 8 & 18; Rondo KV 485 (1953 / 1948)
CD 26 Mozart: Klavierkonzerte Nr. 14, 25, 26 (London Symphony Orchestra, New Symphony Orchestra, Anthony Collins / 1954 / 1955)
CD 27 / 28 Chopin: Klavierkonzert Nr. 1 (London Philharmonic Orchestra, Adrian Boult); Balladen Nr. 1-3; Préludes Nr. 1-24; Weber: Konzertstück f-moll op. 79 (Wiener Philharmoniker, Volkmar Andreae); Strauss: Burleske d-moll für Klavier & Orchester (London Symphony Orchestra, Anthony Collins) (1953-1956)
CD 29 Schumann: Klavierkonzert op. 54 (Wiener Philharmoniker, Volkmar Andreae / 1956); Fantasiestücke op. 12; Waldszenen op. 82 (1955)
CD 30 Debussy: Préludes Hefte 1 & 2 (1955); L’Isle joyeuse (1957)
CD 31 Debussy: Suite bergamasque; Ravel: Valses nobles et sentimentales; Gaspard de la nuit (1957 / 1953)
CD 32 Strauss: 13 Klavier-Lieder (Hilde Güden / 1956); Der Bürger als Edelmann-Suite (Wiener Philharmoniker, Lorin Maazel / 1966)
CD 33 „The First Recordings 1947-1949“ – Bach: Präludium & Fuge G-Dur BWV 860 aus WTK; Menuette I & II aus Partita BWV 825; Fuge aus BWV 911; Beethoven: Bagatelle op. 119 Nr. 11; 6 Ecossaisen WoO. 83; Chopin: Berceuse op. 57; Etüden Nr. 1 & 2; Ballade Nr. 3; Prokofieff: Klaviersonate Nr. 7; Debussy: L’isle joyeuse; Reflets dans l’eau; Mozart: Klaviersonate Nr. 18
CD 34 Beethoven: Klaviersonate Nr. 32; Gulda: Wintermeditation (1984)
CD 35 Schumann: Liederkreis op. 39 (Ursula Anders); Fantasiestücke op. 12 (1984)
CD 36 „Gulda plays Gulda and Corea“ – Gulda: Variations; For Paul; Prelude & Fugue; Sonatine; For Rico; Corea: Children’s Songs Nr. 19 & 20 (1984)
CD 37 „The Meeting Chick Corea“ – Improvisationen an 2 Klavieren über Werke von Frank Churchill, Miles Davis, Brahms, Fritz Pauer
CD 38 „Friedrich Gulda and his Sextet at Birdland 1956“ – Gulda: Quintet; Dark Glow; Introvert; Sctuby; Teheran; Air from other planets; New shoes; Cool Hill; Dodo; Gillespie: A Night in Tunesia; Heyman: Out of nowhere; Shearing: Lullaby of Birdland; Hammerstein / Kern: All the things you are; Miller: Bernie’s Tune
CD 39 Mozart: Klavierkonzert Nr. 17; Beethoven: Klavierkonzert Nr. 2 (Paul Angerer & Orchester / 1961)
CD 40 Mozart: Klaviersonaten Nr. 11, 13, 16
CD 41 Bach: Italienisches Konzert BWV 971
+Blu-ray Audio: Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1-5 (Wiener Philharmoniker, Horst Stein / 1970 / 1971)

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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