CD FRANZ SCHUBERT: WINTERREISE – ANDRÈ SCHUEN, DANIEL HEIDE (Klavier); Deutsche Grammophon
Einzigartige Mischung aus Stimmschönheit und erzählerischer Dichte
Jetzt ist die Schubert Trias des Duos Schuen/Heide voll: Nach „Die schöne Müllerin“ und „Schwanengesang“ schließt sich nun mit „Winterreise“ der Reigen an Schubertschen Liedzyklen, oder was dafür zusammengefasst wurde. Dabei verhält es sich mit den Aufnahmedaten gegenläufig zu den Veröffentlichungsterminen. Die zeitlich erste Einspielung war nämlich die „Winterreise“, die im Dezember 2019 im Hohenemser Markus-Sittikus-Sall aufgenommen wurde. Die „Müllerin“ folgte ebenda im Mai 2020 und der Schwanengesang im März 2021, jeweils mit Daniel Heide als Partner am Klavier.
Andrè Schuens viril-charaktervoller Bariton hat alles, was für einen großen Liedinterpreten nötig ist: Ein unverwechselbares, alle Sinne touchierendes Timbre, eine vollendete Atem- und Gesangstechnik, klangvolle Piani, Legato, Wortdeutlichkeit, poetische Einfühlung und ein somnambules nachschöpferisches Talent.
Die „Winterreise“ besteht aus 24 Liedern, die wie alle anderen ihrer Art durch Dichterwort und Musik doppelt sublimierte Schöpfungen darstellen. Da singt der Komponist, in und mit ihm der einsame Wanderer in kalten Gefilden des Lebens. Nach Gedichten des Wilhelm Müller haben wir es in der „Winterreise“ mit einem allegorischen Pfad an durch die Liebe verursachten Menschheitsleiden zu tun, der durch extreme Gefühle und Stimmungen führt ähnlich einer schwindelerregenden emotionalen Berg- und Talbahnfahrt und durch eine eigenartige, rätselhaft endzeitliche bzw. von neuem Anfang kündender Schönheit geprägt ist.
Da hat die Stimme eine einfache Melodie zu singen, die in seliger Erinnerung schwelgt („Rückblick“), während das Klavier dazu die seelisch-tödlichen Unterströmungen hämmert. Bisweilen bäumen sich beide, die Stimme und das Klavier, gegen das Schicksal auf („Der stürmische Morgen“) oder baden in Aussichtslosigkeit („Irrlicht“). Dann ist es wiederum die Melodie oder das Klavier, die eine Art von metaphysischem Trost in sich bergen („Die Krähe“). Wie in Gemälden von Caspar David Friedrich ist bei Schubert die Präzision im künstlerischen Wurf, das in sich stimmige Farbenspiel im Einzelnen zu bewundern.
In der Nachschöpfung werden Heide und Schuen dem Anspruch eines stupenden Detailreichtums, tausender feiner und feinster Akzente bzw. Pinselstriche gerecht, ohne sich in artikulatorischen oder pianistischen Exzessen zu ergehen. Nicht immer gelingen Schuen die kleinen Noten wie am Schnürl („Die Wetterfahne“). Aber da ist ein Mann mit aufrechtem Stolz sowie einer rührenden Unschuld („Der Wegweiser“) am Werk, von Verbitterung ist bei Schuens Lesart der „Winterreise“ keine Spur zu finden. Vielmehr habe ich bei keinem Interpreten so sehr das Gefühl, dass es hier der Komponist selbst ist, der in schwärmerischer Verzückung zu uns singt.
Diese jugendliche Emphase des sängerischen „kaum Glauben Wollens“, was das Schicksal, was vermeintlich geliebte Menschen uns antun können, wird durch Heides bedachtsame Tempi und sanfte Akzente gestützt. Heide und Schuen lassen sich Zeit, legen Mikropausen ein, die Räume mit ihren wundersam schmerzlichen wie tröstlichen Geschichten im Nachhall erbeben zu lassen. Die leisen Töne überwiegen, die Strophen bewegen sich schon einmal im Puls einer Meditation fort („Wasserflut“, „Auf dem Flusse“), den beschwerlichen Gang des Wanderers imitierend. 77 fürchterlich schöne Minuten Musik sind es, die sich bis zu „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehen“ erstrecken. Sawallisch etwa kommt mit Hermann Prey in der Philips Aufnahme in 67 Minuten ans Ziel.
Fazit: Eine musikalische Traumreise in bunt-schattenreiche Regionen des Lebens, wo Liebesleid, Leidenschaften, Auflehnung und ein künstlerisch versöhnlicher Schluss (aus Überwindung geborenes Erwachsenwerden oder erlösender Tod?) eine unglaubliche Katharsis im Hörer bewirken. André Schuen mit seinem bislang aufwühlendsten Liedalbum, Daniel Heide als kongenial mitschöpferischer Geist.
Hinweis: Die Aufnahme dient auch als Soundtrack zum Animations-/Live-Action-Film „A Winter’s journey“ in der Regie der gleichzeitig als Autorin fungierenden Engländerin Alex Helfrecht mit Gaspard Ulliel, John Malkovich, Martina Gedeck, Charles Berling, Gabriella Moran in den Hauptrollen. Der Film spielt im Bayern des Jahres 1812 und handelt von einem umherziehenden Dichter mit Liebeskummer, der eine gefährliche Wanderung über Berge, Eis und Schnee mit ungewissem Ausgang unternimmt. Der Film wurde von den Animationskünstlern des Loving Vincent gemalt und ist eine Geschichte, die Live-Action mit Computer Generated Imagery und gemalten Animationen vermischt.
Dr. Ingobert Waltenberger