CD FRANZ SCHUBERT: „THE SYMPHONIES“ – NIKOLAUS HARNONCOURT dirigiert das CHAMBER ORCHESTRA OF EUROPE – Live Aufnahmen aus Graz vom Juli 1988, Erstveröffentlichung; ica Classics
„Sofort springt eine unglaubliche Energie über, man spürt die Begeisterung und die tiefe gegenseitige Übereinstimmung, um mit Wissen den Sinn und die farbige Sprache der Musik wiederzuentdecken“ Alice Harnoncourt
Vor nicht allzu langer Zeit hat das orchestereigene Label Berliner Philharmoniker Recordings eine Box mit Live-Mitschnitten von Schlüsselwerken Schuberts, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt, veröffentlicht. Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 2003 bis 2006. Neben acht Symphonien enthält die Box auch wertvolle Klangdokumente mit Vokalmusik, nämlich die Messe Nr. 5 As-Dur D 678, die Messe Nr. 6 Es-Dur D 950 (Tenorsolist Jonas Kaufmann) und eine Gesamtaufnahme der Oper „Alfonso und Estrella“ D 732.
Nun legt ica Classics mit der Erstveröffentlichung der Symphonien Franz Schuberts auf vier CDs aus einer älteren, dafür umso energischeren und gegen den Strich gebürsteten Interpretation mit Nikolaus Harnoncourt aus dessen Heimatstadt Graz/Styriarte Festival vom Sommer 1988 nach. Wie bei Claudio Abbado und dessen 1987 entstandenen Schubert-Aufnahmen für die Deutsche Grammophon (es fehlen die Sinfonie Nr. 7 in E-Dur D729 und die Nr.10 in D-Dur D936A) ist das Chamber Orchestra of Europa Harnoncourts kongenialer und seismographisch dessen Anleitungen umsetzender Partner auf der abenteuerlichen Erkundung von Schuberts nach wie vor im Schatten Beethovens gesehenem symphonischen Vermächtnis.
Frühromantische Musik strahlt bei Harnoncourt keine biedermeierliche Idylle aus, und noch weniger begnügt sich der revolutionäre Originalklangpionier mit gefälliger Unterhaltung. Schuberts Symphonien sind bei Harnoncourt irgendwo zwischen Himmel und Abgrund angesiedelt. Der steirische Maestro schwärmte einst: „Für mich ist Schubert der Komponist, an dem mein Herz am meisten hängt. Wenn man über große Musik spricht, dann spricht man zunächst immer über Mozart und über Bach. Aber wenn es um die letzten Herztöne fegt und um etwas spezifisches Wienerisches – wobei ich betonen muss, dass ich selbst ja kein Wiener bin! – dann ist es sicherlich Schubert, der mir am nächsten steht. Diese Traurigkeit, diese Todesnähe, die ist bei Schubert ganz rein und wahrhaftig vorhanden. Ganz zu schweigen von der Melodik und der Harmonik die bei Schubert einmalig sind. Es gibt vielleicht keinen anderen Komponisten, der eine so persönliche Sprache hat.“
Im Orchester hat Harnoncourt bei den Proben in Graz nicht nur die Instrumentengruppen angesprochen, sondern an jeden einzelnen Musiker appelliert, Risiko zu zeigen, mit der Musik an die jeweils eigene Grenze zu gehen. Diese individuellen Sichtweisen zusammen ergeben natürlich keine stilistische Kakophonie – der allen gemeinschaftliche Notentext und die akribische Erarbeitung des historisch kulturellen Kontexts durch den Dirigenten mögen abhüten – sondern fügen sich zu einem rhythmisch geschärften und elektrisierenden Klangbild voller dramatischer Wendungen, neu wahrgenommener Details und rustikal erdiger Deftigkeit.
Den Aufführungen gingen im heißen Sommer 1988 intensive Proben auf dem Dachboden des Schlosses Brandhof voraus. Die Geigerin Elisabeth Wexler erinnert sich an die Akribie, mit der Harnoncourt an den Farben und der Textur der Streicher arbeitete. „Wir begannen mit den Bässen und den Celli und arbeiteten, bis sie das Gespür für den Grundschlag von guter österreichischer Volksmusik bekommen hatten. Darauf wurde sorgfältig an den Bratschen und zweiten Geigen gefeilt, die dann mit der Bassgruppe zusammengebracht wurde. Als die ersten Geigen dazukamen, war die Erwartung im Orchester spürbar, wir mussten exquisit klingen.“
Wie ein Sternenzelt spannen sich äußerste Intensität, die „lebhafte Charakterisierung jedes musikalischen Motivs“ (Joe Rappaport) und eine unstillbare Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit über diese außerordentlich spannenden Bänder. Auch 32 Jahre nach den Konzerten ohne jegliche Patina, ungebrochen kühn, aufregend und mitreißend. Von allen drei nun vorliegenden Schubert Zyklen Harnoncourts ist der „neue“ Grazer sicherlich der aufwühlendste.
Anmerkung: Nikolaus Harnoncourt hat in den frühen 90-er Jahren die Schubert Symphonien bei Warner auch mit dem Concertgebouw Orchester aufgenommen.
Dr. Ingobert Waltenberger